Null
Caines Wohnung kamen, schlich schon ein Streifen frühes Morgenlicht über den Fußboden. Draußen vor dem Fenster sah Caine die Sonne über den Horizont spähen. Der Wanduhr nach war es 6.28 Uhr. Sie und der Anrufbeantworter waren die einzigen elektronischen Geräte, die in der Wohnung noch übrig waren. Alle anderen waren gestohlen. Das musste er Nikolaev lassen: Wenigstens war er gründlich.
Schachfiguren aus poliertem Stein lagen über den Boden verstreut. Caine bückte sich und hob einen schwarzen Springer auf. Das Pferdemaul war abgebrochen. Ihn überkamen Trauer und ein Gefühl des Verlusts. Das Schachspiel war das einzig Wertvolle gewesen, was er besaß. Caine hatte es zu seinem sechsten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen. Von dem Moment an, da sein Vater die seltsam aussehenden Figuren auf dem schwarzweißen Brett aufgestellt hatte, hatte das Spiel Caine in seinen Bann geschlagen.
«Schach ist wie das Leben, David», hatte sein Vater gesagt. «Jede Figur hat eine bestimmte Funktion. Manche sind schwach, andere sind stark. Manche sind gut für den Anfang, andere sind am Ende mehr wert. Aber du musst sie alle nutzen, um zu gewinnen. Und wie im Leben kommt es auf den Spielstand nicht an. Du kannst zehn Figuren weniger haben und trotzdem gewinnen. Das ist das Schöne am Schach: Ein Comeback ist bis zum Schluss möglich. Und um zu gewinnen, musst du dir nur über alles im Klaren sein, was auf dem Brett vor sich geht. Und du musst herausfinden, was dein Gegner als Nächstes tun wird.»
«Die Zukunft vorhersagen, meinst du?», fragte Caine.
«Die Zukunft
vorhersagen
kann man nicht. Aber wenn du genug über die Gegenwart weißt, kannst du die Zukunft
steuern
.»
Damals verstand Caine nicht, was sein Vater damit meinte, aber dennoch wurde er ein begeisterter Schachspieler. Allabendlich, nachdem Jasper und er den Tisch abgeräumt hatten, spielte sein Dad mit jedem von ihnen eine Partie, ehe die Zwillinge ihre Hausaufgaben machten. Jasper gewann nie gegen seinen Vater, Caine aber siegte regelmäßig gegen ihn.
Caine hob den weißen König auf und stellte ihn wieder auf seinen Platz. Es war nun schon über zehn Jahre her, dass sein Vater gestorben war. Das Schachspielen mit ihm fehlte Caine immer noch.
«Weißt du», sagte Jasper und riss Caine damit aus seinen Gedanken. «Ich glaube, Dad hatte dich lieber, weil du so gut spielen konntest.»
«Dad hatte mich nicht lieber», sagte Caine, obwohl er wusste, dass an dem, was sein Bruder da sagte, mehr als nur ein Körnchen Wahrheit dran war. «Und außerdem warst du auch ein guter Spieler, wenn du dich mal konzentriert hast. Dein Problem war, dass du nie lange genug still sitzen konntest. Du hast immer irgendwelche Flüchtigkeitsfehler begangen, die es einem dann leicht gemacht haben, dich zu attackieren.»
Jasper zuckte mit den Achseln. «Konzentration ist dein Ding, nicht meins», sagte er. «Hast du ein Kissen?»
Das war’s dann mit dem Schwelgen in Erinnerungen, dachte Caine. Er hatte Jasper so verstanden, dass ihr Gespräch damit beendet war. Er richtete Jasper die Couch her und legte sich dann auf sein Bett. Fast augenblicklich schlief er ein. Ganz langsam trieb sein Geist hinaus auf die See des Unterbewussten. Und dann saß er …
…
… in einem Zug nach Philadelphia.
Der Waggon schaukelt sacht hin und her, was einschläfernd auf ihn wirkt. Er hat das stete Klick-Klack, Klick-Klack im Ohr. Die Bäume draußen vor dem Fenster ziehen als verschwommener brauner Streifen an ihm vorbei. Er guckt nach unten, und was er da sieht, überrascht ihn. In seiner linken Hand liegt eine andere, viel kleinere Hand. Sie gehört Elizabeth. Das kleine Mädchen strahlt Caine an und drückt einen seiner Finger.
Caine sieht zu seiner rechten Hand hinüber. Sie ist fest geschlossen und wird gehalten von einer großen, weichen Hand mit langen roten Fingernägeln. Caine sieht die Frau an und möchte sie bitten, ihren Griff zu lösen. Als sie ihm das Gesicht zuwendet, kommt sie ihm irgendwie bekannt vor. Ihm wird erst klar, wer sie ist, als er ihren dicken Bauch bemerkt. Die schwangere Frau aus dem Krankenhaus.
«Wohin fahrt ihr?», fragt Caine die beiden.
«Wo du auch hinfährst», antworten sie einstimmig.
«Und warum das?», fragt Caine, ohne recht zu wissen, was er durch diese Frage eigentlich erfahren will.
«Weil das nun mal so funktioniert», antwortet Elizabeth.
«Ah», erwidert Caine, so als wäre das eine absolut plausible Antwort.
…
Und
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