Null
Oder etwas anderes? Caine wusste es nicht zu sagen. Mit einem Mal schämte er sich dafür, dass er noch Stunden zuvor solche Angst gehabt hatte. Er war schließlich ein erwachsener Mann. Und das Mädchen hier vor ihm war nur ein kleines Kind. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, in ihrem Alter allein im Krankenhaus zu liegen.
«Du heißt Elizabeth, nicht wahr?»
«Mm», nickte sie.
«Das ist wirklich ein schöner Name. Weißt du, wenn ich mal eine Tochter habe, werde ich sie, glaube ich, auch Elizabeth nennen.»
«Wirklich?», fragte das Mädchen und rieb sich geistesabwesend die Nase.
«Wirklich», sagte Caine und lächelte. Dann beugte er sich verschwörerisch zwinkernd zu ihr vor. «Jetzt bist du dran und musst sagen, dass dir
mein
Name gefällt – auch wenn er längst nicht so schön ist wie Elizabeth.»
Elizabeth kicherte. «Dein Name ist auch schön.»
«Wirklich?», fragte Caine und imitierte dabei ihre hohe Stimme.
Elizabeth kicherte wieder. «Wirklich», sagte sie und entblößte lächelnd eine Zahnlücke. Dann sagte sie: «Du bist anders als die anderen.»
«Welche anderen?»
«Die anderen Ärzte», sagte sie, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. «Die reden nie mit mir. Die sagen höchstens mal ‹Mach mal aaah› oder so was.»
«Tja, mit Ärzten hat man es manchmal nicht leicht. Aber sie haben ja auch einen schwierigen Beruf, haben den ganzen Tag lang mit kranken Leuten zu tun, und darum bemühe ich mich immer, nachsichtig mit ihnen zu sein.»
«Ja, das stimmt wohl», sagte sie mit viel mehr Schwermut, als einem Mädchen ihres Alters gemäß war. «Das geht mir bloß so auf die Nerven.»
«Ja», sagte Caine. «Das verstehe ich.»
Sie sah ihn sich genauer an, machte Schlitzaugen, um sein Gesicht in dem Dämmerlicht besser erkennen zu können. «Bist du wirklich ein Arzt, Caine?»
Caine lächelte. «Würdest du mich weniger mögen, wenn ich keiner wäre?»
«Nein, ganz bestimmt nicht. Dann würde ich dich viel lieber mögen.»
«Also, wenn das so ist», sagte er, «ich bin kein Arzt.»
«Gut, denn ich mag eigentlich keine Ärzte.»
«Ich auch nicht», sagte er.
Caine schwieg eine Weile, und Elizabeth gähnte mit aufgerissenem Mund.
«Ich glaube, das ist der richtige Moment für mich zu gehen. Für dich ist ja eh schon längst Schlafenszeit.» Caine stand auf, aber Elizabeth hielt ihn am Arm zurück. Er war erstaunt, wie kräftig sie zupackte.
«Bitte geh noch nicht. Bleib noch ein bisschen bei mir. Nur bis ich eingeschlafen bin, ja?»
«Also gut», sagte Caine und setzte sich wieder. Behutsam löste er Elizabeths Hand und legte sie auf ihren Schoß. «Ich verspreche dir, ich gehe nirgendwohin, bis ich höre, dass du anfängst zu schnarchen.»
«Ich schnarche nicht!»
«Das werden wir ja sehen», sagte Caine und deckte sie gut zu. «Und jetzt mach die Augen zu und fang an, Schafe zu zählen.»
Elizabeth gehorchte. Wenig später wandte sie sich mit geschlossenen Augen zu ihm hin.
«Kommst du mich morgen Nacht wieder besuchen?»
«Ich glaube, dann bin ich schon weg, Elizabeth.»
«Dann vielleicht im Traum?»
«Ja, vielleicht im Traum.»
Einige Minuten später begann Elizabeth, tief zu atmen, und Caine schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, seltsamerweise sicher, dass sich das, weshalb sie ins Krankenhaus gemusst hatte, schon irgendwie würde beheben lassen.
Jasper ging um den Block und wartete, dass ihm die Stimme sagte, wann es so weit war. Er hatte noch nie eine Schusswaffe abgefeuert, machte sich darum aber keine Gedanken. Es war genau so, wie wenn man ein Foto schoss: zielen und abdrücken. Der einzige Unterschied war, dass eine 35mm-Nikon keinen Rückstoß hatte wie eine Lorcin L 9mm.
Er hatte überlegt, in Harlem, wo er die illegale Schusswaffe erworben hatte, ein paar Probeschüsse abzugeben, aber er besaß lediglich zwei Ladeclips Munition und wollte keine Kugel vergeuden. Er wusste nicht, wie viele er brauchen würde, denn die Stimme hielt sich, was das anging, sehr im Vagen. Sie hatte ihm nur gesagt, er solle eine Waffe kaufen und schnellstens wieder nach Downtown zurückkommen, und das hatte er getan. Üben musste er an Ort und Stelle.
Jasper fragte sich, ob er jemanden würde töten müssen. Er wollte es nicht, wusste aber, dass er es tun würde, wenn ihm die Stimme die Anweisung dazu gab. Sie würde ihn nicht in die Irre führen. Das war schlicht und einfach unmöglich: Sie wusste alles – alles, was es zu wissen gab.
Jasper
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