Nullpunkt
der eine Menge zu tun hat. Sehen Sie sich an: Sie stellen jede Menge Fragen, machen die Laufarbeit, lassen den Star der Sendung gut aussehen – einen Star, der nebenbei bemerkt Ihre ganze harte Arbeit nicht besonders zu schätzen weiß.»
Sie verzog das Gesicht, doch sie ließ sich nicht auf den Themawechsel ein. «Wir Field Producer haben unser Kreuz zu tragen, genau wie Sie.» Sie blickte sich um. «Sie spielen?» Sie nickte in Richtung eines an der Wand lehnenden MID I-Keyboards .
Marshall nickte. «Hauptsächlich Blues und Jazz.»
«Sind Sie gut?»
Er lachte. «Gut genug, schätze ich. Ich könnte vielleicht nicht davon leben, aber daheim in Woburn spiele ich in der Hausband eines Clubs. Am meisten Spaß macht mir das Spielen mit Synthesizern. Heutzutage macht es kaum noch jemand – die Klänge sind allesamt vorgefertigt, man wählt aus einem Menü im Computer nur noch die Wellenform aus und fertig. Aber als Jugendlicher habe ich das Spielen mit Oszillatoren und Filtern wirklich geliebt. Ich habe sogar meine eigenen gebaut.»
«Irgendwann müssen Sie uns etwas vorspielen.» Sie erhob sich. «Schätze, ich gehe besser wieder raus. Ich hab vorhin ein Segment über die Nordlichter vorbereitet. Ich schätze, Emilio ist draußen und filmt wie besessen.»
Marshall erhob sich. «Ich komme mit, wenn Sie nichts dagegen haben.»
Das Thermometer oben in der Wetterkammer zeigte 2 Grad unter null. Marshall schlüpfte in den leichteren seiner Parkas, dann führte er Kari Ekberg durch den Bereitschaftsraum nach draußen und in eine Szenerie, die wirkte wie ein kontrollierter Weltuntergang. Trotz der späten Stunde wimmelte es auf dem Vorplatz von Filmleuten, die im grellen Licht zahlreicher Scheinwerfer arbeiteten. Helfer rückten Kamerastative in Position, schoben große Gerüste rings um den Kältetresor und bereiteten alles für die Aufnahmen des nächsten Tages vor. Nicht weit von Ashleighs riesigem Mobile Home stellte ein Beleuchtungsassistent einen Flutlichtstrahler auf, um die Ausleuchtung des bevorstehenden Drehs zu verbessern. Der Tontechniker unterhielt sich lebhaft mit Fortnum, dem Kameramann. Wolff, der Verbindungsmann des Senders, stand mit den Händen in den Taschen wie ein Gespenst im Schatten des Sno-Cat und verfolgte schweigsam das Geschehen. Ein Dutzend andere Filmleute hingen in kleinen Gruppen herum und starrten hinauf in den Nachthimmel.
Marshall folgte ihrem Blick nach oben. Was er dort sah, raubte ihm den Atem. Er hatte angenommen, dass die Helligkeit ringsum durch und durch künstlich war – stattdessen stammte sie jedoch von der spektakulärsten, bizarrsten
Aurora borealis
, die er je gesehen hatte. Der gesamte Himmel loderte in Schichten von wogendem Licht. Es schien beinahe greifbar, fast materiell – ein quecksilbriges Leuchten, das sich über das Firmament wand und schlängelte. Es hing so tief über seinem Kopf, dass Marshall den verrückten Impuls verspürte, sich zu ducken. Die Farbe war schwer zu beschreiben: ein unglaublich sattes, dunkles Purpur mit einem bedrückenden, schwach radioaktiven Leuchten.
«Gütiger Gott», murmelte er.
Kari Ekberg sah ihn an. «Ich hätte gedacht, dass Sie diesen Anblick inzwischen satthaben», sagte sie.
«Das sind keine gewöhnlichen Nordlichter. Normalerweise sieht man eine Reihe sich bewegender farbiger Bänder, doch heute Nacht gibt es nur ein einziges. Sehen Sie nur, wie intensiv es leuchtet!»
«Ja. Wie Wein, nicht wahr? Oder vielleicht Blut. Es ist unheimlich.» Sie beobachtete ihn. Ihr Gesicht leuchtete im reflektierten Schein von oben. «Und Sie haben diese Art von Nordlicht noch nie zuvor gesehen?»
«Nur ein einziges Mal – am Abend, bevor wir den Tiger entdeckt haben.» Er zögerte. «Aber heute Nacht ist der Effekt sicher doppelt so intensiv. Und das Licht hängt so tief am Himmel, dass man glaubt, man könnte es berühren.»
«Bilde ich mir das ein, oder macht es Geräusche?» Kari Ekberg hatte den Kopf zur Seite geneigt, als würde sie lauschen. Marshall tat es ihr gleich. Es war unmöglich, das wusste er – und doch meinte er, über den Lärm der Arbeiten und das Brummen der Generatoren hinweg etwas zu hören. In einer Minute grollte es wie ferner Donner, im nächsten stöhnte es wie eine Frau voller Schmerz, und stets genau im Takt zum An- und Abschwellen der Lichter. Die Worte des alten Schamanen fielen ihm ein:
Und jetzt sind die Alten wütend, wütender als jemals zuvor in der Erinnerung meines Volkes. Ihr Zorn malt den
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