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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Child
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und Arme erschienen. Einen Augenblick lang herrschte eine furchtbare Starre, dann bewegte sich die Gestalt in seine Richtung, langsam zuerst, dann immer schneller. Es war etwas Grässliches an der Art und Weise, wie sie rhythmisch auf und ab schwebte, und an dem unübersehbaren Hunger, mit dem sie die gespreizten Hände nach ihm ausstreckte. Er wandte sich zur Flucht und stellte mit jener entsetzlichen, schleichenden Paralyse des Albtraums fest, dass seine bleiernen Füße sich nicht rührten …
    Marshall kam mit einem Ruck wieder zu sich. Er war nassgeschwitzt, und die Laken hatten sich um ihn gewickelt wie ein Leichentuch. Er starrte aus weit aufgerissenen Augen nach links und rechts in die Dunkelheit, während er darauf wartete, dass sich sein Atem beruhigte und die letzten Reste des Traums verflüchtigten.
    Nach einer Minute warf er einen Blick auf seine Uhr. Viertel vor fünf. «Scheiße!», murmelte er und ließ sich auf das durchgeschwitzte Kissen zurücksinken.
    Er würde keinen Schlaf mehr finden, nicht mehr in dieser Nacht. Also setzte er sich auf, erhob sich von seiner Pritscheund schlüpfte in seine Kleider, dann trat er hinaus in den Korridor.
    Die Basis lag so still, dass er sich an die ersten Nächte erinnert fühlte, die er hier verbracht hatte, als die kleine Gruppe von Wissenschaftlern noch überwältigt vor dem Labyrinth aus dunklen Gängen und lange verlassenen Räumen gestanden hatte. Seine Schritte hallten auf dem Stahlboden, und er verspürte den albernen Drang, auf Zehenspitzen zu laufen. Er verließ den Schlafbereich und passierte die Labors, die Messe, die Küche, bevor er in einen Gang einbog, der zu einem Bereich der Basis führte, den die Wissenschaftler noch nie benutzt hatten: ein Gewirr aus Lagerräumen und Überwachungsstationen. Er zögerte. In einiger Entfernung vernahm er ganz leise Musikfetzen – irgendjemand musste seinen C D-Player angeschaltet haben. Es gab im Umkreis von mehr als achthundert Kilometern keine Radiosender, und wenn, beschäftigten sie sich mehr mit den Preisen für Diesel und der alljährlichen Elchbrunft, als Musik zu senden.
    Die Hände in den Taschen vergraben, wanderte er tiefer in das Labyrinth der Überwachungsstation. Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, die bedrückende Vorahnung abzuschütteln. Wenn überhaupt, dann schien sie noch schlimmer zu werden: eine beharrliche, perverse Überzeugung angesichts der Aufregungen des heraufziehenden Tages, dass etwas Schreckliches passieren würde.
    Er zögerte erneut. Die klaustrophobische Enge der Basis, die wachsame Stille, verschlimmerten seine Trübsal noch. Einem Impuls gehorchend, wandte er sich um, ging den Weg zurück, den er gekommen war, und stieg die Treppe in die oberste Ebene hinauf. Er bewegte sich in Richtung Ausgang, passierte den dunklen Wachposten, zog im Vorbeigehen seinenParka an und erreichte den Bereitschaftsraum. Es war erst acht Stunden her, seit er zum letzten Mal draußen gewesen war, doch in seinem gegenwärtigen Zustand gab es nichts, das ihn noch länger in dieser dunklen, unheimlichen Basis halten konnte. Er packte eine Taschenlampe, schloss den Reißverschluss seines Parkas, öffnete die Außentüren und trat nach draußen.
    Überrascht stellte er fest, dass das Nordlicht noch intensiver geworden war: ein tiefes, cremiges, pulsierendes Rot. Unheilverkündend. Es verwandelte das gesamte Vorfeld mitsamt den Schuppen und Fertigbauten, den Zelten und Lagern in eine monochrome, unwirkliche Landschaft. Marshall steckte die Taschenlampe ein – sie war überflüssig. Der Wind war stärker geworden und riss an losen Planen und nachlässig gebundenen Seilen, doch auch das vermochte das unheimliche Stöhnen und Knistern nicht zu erklären, von dem Marshall hätte schwören können, dass es von den Lichtern selbst herrührte.
    Noch etwas schien eigenartig, doch es dauerte einen Moment, bevor er erkannte, was es war. Der Wind fühlte sich beinahe
warm
auf seiner Haut an. Als wäre abrupt ein vorzeitiger Frühling in der Zone angebrochen. Er öffnete den Reißverschluss seines Parkas – auf dem Weg nach draußen hätte er einen Blick auf das Thermometer werfen sollen.
    Er bewegte sich zwischen den niedrigen Gebäuden hindurch. Die eine Hälfte war in blutig rotes Licht getaucht, die andere tief in schwarze Schatten versunken. Plötzlich hörte er ein leises Knarren aus dem Gewirr der Hütten vor sich.
    Er blieb im roten Halblicht stehen. War außer ihm etwa noch jemand hier

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