Nullpunkt
Zuschauer in sichere Entfernung zurück, bedeckten schützend ihre Gesichter mit den Händen oder suchten den Windschatten der nahegelegenen Gebäude. Der Helikopter setzte auf, und das Heulen der Turbinen ließ ein wenig nach. Der Eissturm wurde schwächer, und eine Luke öffnete sich im Bauch der Maschine. Darin erschien eine gertenschlanke Frau in einem Burberry-Trenchcoat. Sie stieg die Gangway hinunter, hielt kurz inne und warf mit undurchdringlicher Miene einenBlick auf die umstehenden Gebäude. Dann spannte sie einen Regenschirm auf, der vom Luftdruck der Rotoren umzuklappen drohte, und stieg die Gangway wieder hinauf. Eine zweite Gestalt in einem luxuriösen Hermelin erschien, und beide stiegen die Treppe hinunter. Marshall reckte den Hals, um einen Blick auf das Gesicht der Frau im Hermelin zu erhaschen, doch die Frau im Trenchcoat schirmte sie so geschickt vor dem Luftzug der Rotorblätter ab, dass es unmöglich war, irgendetwas zu sehen außer dem Saum des Pelzmantels, sehr ansehnlichen Beinen und glänzenden schwarzen Pumps, die elegant über den Permafrost stöckelten.
Inzwischen fuhr die Gangway wieder ins Innere des Sikorsky zurück, und die Luke schloss sich. Die Turbinen heulten lauter, und der Hubschrauber erhob sich unter lautem Rotorschlagen vom Boden. Während er höher und höher stieg und rasch an Geschwindigkeit gewann, rümpfte Barbour die Nase.
Marshall bemerkte plötzlich, dass Kari Ekberg ebenfalls unter den Zuschauern stand und die Ankunft verfolgt hatte. Jetzt trat sie vor, um die Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen. «Miss Davis», hörte Marshall sie sagen. «Ich bin Kari Ekberg, Field Producer dieser Produktion. Wir haben in New York miteinander gesprochen. Ich möchte nur sagen, dass ich mit dem größten Vergnügen alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Ihren Aufenthalt …»
Doch wenn eine der beiden Frauen – die dünne im Trenchcoat oder die im Hermelin – Kari Ekbergs Worte gehört hatte, so ließ sie sich nichts anmerken. Stattdessen rauschten sie an Ekberg vorbei, stiegen die Stufen zur Tür des glänzenden Trailers hinauf, schlüpften hinein und warfen die Tür hinter sich ins Schloss.
14
Den ganzen Tag über wurde es beständig wärmer. Erst waren es minus zehn, dann nur noch minus fünf Grad Celsius, und Conti hetzte seine Filmcrew durch die schneebedeckte Landschaft, für den Fall, dass es anfing zu tauen. Es herrschte strahlender Sonnenschein, und als dick isolierte Parkas gegen Wollpullover und Daunenjacken getauscht wurden, besserte sich die Stimmung des Filmteams merklich. Aus Richtung des Mount Fear erklangen wieder die laut knallenden Geräusche, die anzeigten, dass die Gletscherfront kalbte. Gonzalez ließ seine Soldaten einen der Generatoren zerlegen, weil die Lager unter der hohen Last festgelaufen waren. Nach dem Essen wurden die meisten der einheimischen Arbeiter in zwei Frachthelikoptern zurück nach Anchorage gebracht. Sie wurden erst wieder gebraucht, wenn die Dreharbeiten abgeschlossen waren. Lediglich Creel, der massige Vorarbeiter, der aussah, als würde er zum Frühstück Stahlbolzen verspeisen, blieb auf der Basis. Gegen drei Uhr nachmittags trat Ashleigh Davis aus ihrem Monster-Wohnwagen, warf einen herablassenden Blick auf die Anlage mit all den Schuppen und provisorischen Aufbauten und betrat dann in Begleitung ihrer persönlichen Assistentin mit dem Trenchcoat die eigentliche Basis, allem Anschein nach, um sich von Conti instruieren zu lassen.
Nach dem Essen kehrte Marshall zurück in sein Labor, wo er den ganzen Tag über arbeitete und niemanden sah oder hörte. Weil der größte Teil der Filmcrew draußen war und alles für die Sendung am nächsten Tag vorbereitete, war es in der Basis relativ ruhig, und nichts lenkte ihn ab.
Er saß über einen Untersuchungstisch gebeugt und war so in seine Arbeit vertieft, dass er nicht einmal hörte, wie die Labortür leise geöffnet wurde. Er merkte erst, dass er Gesellschaft hatte, als eine leise Frauenstimme hinter ihm intonierte:
«‹Und tanzten leise vom Firmament,
schwebend in rotem Dunst.
Und hüpften flink auf silbernen Tatzen,
durchbohrend mit blendendem Schein.
Sie tanzten einen Kotillon am Himmel,
rosa und silbern beschuht.
War nicht gedacht für Menschenaugen,
sondern für die Augen von Gott.›»
Er richtete sich auf und drehte sich um. Hinter ihm stand Kari Ekberg an einen Tisch gelehnt, gekleidet in Jeans und einen weißen Rollkragenpullover. Um ihre Mundwinkel spielte
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