Nullpunkt

ein Lächeln. Er vollendete die Strophe:
    «‹Und wanden sich wie eine Schlangenbrut,
    zischend und schwefelbleich,
    verwandelten sich in einen Drachen groß,
    der ausschlug mit gespaltenem Schweif.›»
    «Sind wieder alle draußen?», fragte er.
    «Und wie.»
    «Wissen Sie, seit ich hergekommen bin und dieses Polarlicht zum ersten Mal gesehen habe, warte ich darauf, dass jemand Robert W. Service zitiert. Ich hätte nicht geglaubt, dass es von Ihnen kommt.»
    «Ich liebe seine Werke, seit mein älterer Bruder mich zu Tode erschreckt hat, indem er in einem kleinen Zelt im Schein seiner Taschenlampe laut
Die Einäscherung des Sam McGee
vorgelesen hat.»
    «Schätze, meine Geschichte klingt mehr oder weniger genauso.»Er warf einen Blick auf seine Uhr. «Meine Güte, schon zehn.» Er streckte sich, dann sah er sie an. «Ich hätte erwartet, dass Sie voller Stress hin und her rennen und Änderungen in letzter Minute durchführen?»
    Sie schüttelte den Kopf. «Ich bin Field Producer, schon vergessen? Ich mache die Vorarbeiten. Ich sorge quasi dafür, dass jeder seine Tanzschritte kennt. Sobald die Prominenz eintrudelt, lehne ich mich mehr oder weniger zurück und beobachte das Geschehen nur noch.»
    Die Prominenz
, dachte Marshall und rief sich die «Nicht-Begegnung» zwischen Ekberg und Ashleigh Davis ins Gedächtnis, die er an jenem Morgen miterlebt hatte.
    «Und Sie?», fragte sie. «Ich hab Sie den ganzen Tag lang nicht gesehen. Welche großartigen Entdeckungen haben Sie heute gemacht?»
    «Wir Paläoökologen sind nicht auf großartige Entdeckungen aus. Wir versuchen lediglich Fragen zu beantworten. Licht auf die dunklen Stellen zu werfen.»
    «Und warum arbeiten Sie dann so lange? Es ist ja schließlich nicht so, als würde all das hier weglaufen, oder?» Sie winkte in die Richtung, in der sie den Gletscher vermutete.
    «Ehrlich gesagt, es läuft sogar sehr viel schneller weg, als wir alle es bisher für möglich gehalten hätten.» Er wandte sich seinem Arbeitsplatz zu und nahm eine kleine gelbe Blume zur Hand. «Das hier habe ich heute Morgen unmittelbar hinter dem Zaun gefunden. Es lugte durch den Schnee. Vor zehn Jahren lag die nördliche Verbreitungsgrenze dieser Pflanze noch hundertfünfzig Kilometer weiter südlich. So sehr hat die globale Erwärmung die Dinge in nur einer einzigen Dekade verändert.»
    «Aber ich dachte, die globale Erwärmung wäre nützlich für Ihre Arbeit?»
    «Die Gletscherschmelze hilft mir, mehr Proben in kürzerer Zeit zu sammeln, zugegeben. Eine zurückweichende Gletscherfront ermöglicht mir bequemen Zugriff auf alles Mögliche – Pollen, Insekten, Samen von Nadelhölzern, selbst Luftblasen, die Rückschlüsse auf die Menge an Kohlendioxid in der damaligen Luft gestatten. Es ist überhaupt nicht zu vergleichen mit den mühseligen Kernbohrungen oben auf dem Eis. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich erfreut wäre über die globale Erwärmung. Wissenschaft sollte immer objektiv sein.»
    Sie sah ihn an. Ihr ironisches Grinsen vertiefte sich. «Und das ist es, was Sie sind? Objektiv?»
    Er zögerte. «Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen – nein», seufzte er schließlich. «Die globale Erwärmung macht mir eine höllische Angst. Ich bin kein Aktivist – es ist nur so, dass ich die Konsequenzen besser verstehe als die meisten anderen. Wir verlieren schon jetzt immer mehr die Kontrolle über die Situation. Die Erde ist bemerkenswert widerstandsfähig und kann vieles selbst reparieren. Doch dieser Erwärmungstrend nimmt in zu raschem Maße zu, und schon jetzt sind Hunderte von Kettenreaktionen im Gange …»
    Er unterbrach sich und lachte leise. «Ich sollte mich wirklich neutral zu diesem Thema äußern. Wenn Sully mich so reden hörte, würde mich das den Kopf kosten …»
    «Keine Sorge, ich verrate nichts. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie offen zu mir sind.»
    Er zuckte die Schultern. «Offen gestanden finde ich das alles ziemlich ironisch. Kurzfristig profitiere ich beträchtlich von der Gletscherschmelze. Doch wenn der Gletscher erst verschwunden ist, sind auch alle Spuren vernichtet, die ich für meine Forschung benötige. Alles wird ins Meer gespült. Dashier ist meine eine, einzige und beste Chance, den Gletscher zu studieren und Proben zu sammeln.»
    «Deswegen arbeiten Sie also bis spät in die Nacht. Tut mir leid, wenn ich hineingeplatzt bin und gestört habe.»
    «Machen Sie Witze? Ich bin dankbar für Ihren Besuch. Abgesehen davon bin ich nicht der Einzige,