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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Child
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Himmel blutig rot. Der Himmel schreit vor Schmerz wie eine Frau in den Wehen …
    Marshall schüttelte den Kopf. Er hatte Geschichten gehört von stöhnenden und weinenden Nordlichtern, doch er hatte sie stets in das Reich der Fabeln verwiesen. Vielleicht lag es daran, dass das Nordlicht diesmal sehr viel tiefer hing – jedenfalls gab es definitiv ein damit zusammenhängendes akustischesPhänomen. Er wollte schon zurück in die Basis und seine Kollegen rufen, als er Faraday bemerkte. Der Biologe stand zwischen zwei provisorischen Schuppen, in der einen Hand ein Magnetometer, in der anderen seine Digitalkamera, beides nach oben gerichtet. Er hatte das Phänomen also ebenfalls bemerkt.
    Aus den Augenwinkeln sah Marshall eine Bewegung. Der Ice Road Trucker und sein Beifahrer kamen auf ihn zu. Trotz der Kälte trug der Trucker immer noch nur sein buntes Hawaii-Hemd. «Höllischer Anblick, wie?», sagte er.
    Marshall nickte nur.
    «Ich hab ja schon eine ganze Menge Nordlichter gesehen», fuhr der Trucker fort. «Aber das hier schlägt alles.»
    «Die Inuit glauben, dass es die Geister der Toten sind», erwiderte Marshall.
    «Stimmt», sagte der Beifahrer. «Und zwar keine besonders freundlich gesinnten Geister. Sie benutzen den Himmel, um mit menschlichen Schädeln Fußball zu spielen. Es heißt, wenn man laut pfeift, während die Nordlichter tanzen, kommen die Geister herunter und reißen einem ebenfalls den Schädel ab.»
    Kari Ekberg erschauerte. «Dann bitte ich darum, dass niemand pfeift. Ich hänge sozusagen an meinem Kopf.»
    Marshall musterte die Neuankömmlinge neugierig. «Tatsächlich? Das wusste ich nicht.»
    «Ich auch nicht, bis zu meinem Aufenthalt in Yellowknife.» Er nickte in Richtung des Truckers. «Der nette Bursche hier hat mich freundlicherweise von dort aus mitgenommen.»
    Marshall lachte. «Sie wirkten ziemlich erleichtert, als Sie ausstiegen», sagte er.
    Der bärtige Mann lächelte dünn. Die Fahrt musste furchteinflößend gewesen sein. «Es schien mir zum damaligen Zeitpunkteine gute Idee zu sein.» Er streckte die Hand aus. «Mein Name ist Logan.»
    Der Trucker folgte seinem Beispiel. «Und ich heiße Carradine.»
    Marshall stellte Kari Ekberg und sich selbst vor. «Mein Gefühl sagt mir, dass Sie nicht aus der Gegend hier kommen», sagte er zu Carradine.
    «Ihr Gefühl ist goldrichtig», antwortete der Trucker. «Vero Beach, Florida. Die Bezahlung hier oben ist großartig, aber sonst hat Alaska reichlich von allem zu bieten, was ich absolut nicht brauche.»
    «Und ist das, was Sie nicht brauchen, etwas, worüber Sie sprechen können?», fragte Kari Ekberg.
    «Schnee. Eis. Männer. Insbesondere Männer in roten Flanellhemden.»
    «Männer», wiederholte Ekberg.
    «Jepp. Männer. Gibt viel zu viele davon hier oben. Das Verhältnis von Männern zu Frauen ist zehn zu eins. Es heißt, wenn eine Frau interessiert ist, hat sie große Chancen. Große Chancen auf eine Niete.»
    Sie lachten.
    «Ich muss zurück in die Basis», sagte Logan. «Scheint, mein Empfehlungsschreiben ist nicht rechtzeitig eingetroffen, und der gute Sergeant Gonzalez verlangt eine Erklärung für mein Hiersein. War mir ein Vergnügen, Sie beide kennenzulernen.» Er nickte ihnen nacheinander zu, dann wandte er sich ab und ging zum Haupteingang.
    Sie sahen ihm hinterher. «Ich kenne ihn nicht», sagte Kari Ekberg zu dem Trucker. «Gehört er zu Ashleigh Davis’ Gefolge?»
    «Er ist allein», antwortete Carradine.
    «Und was macht er hier?»
    Carradine zuckte die Schultern. «Er hat erzählt, er sei Professor – Enigmaloge.»
    «Er ist
was
?», fragte Marshall.
    «Enigmaloge.»
    «Dann gehört er zu Ihnen?», sagte Kari Ekberg zu Marshall.
    «Absolut nicht», antwortete er. «Er ist mir ein Rätsel.»
    In der Luft hing eine spürbare Aufregung, die selbst das bizarre Schauspiel des Nordlichts nicht völlig zu erklären vermochte. Im ameisenhügelartigen Gewimmel schien alles genau nach Plan zu laufen. Das sorgfältig berechnete Auftauen des Eisblocks hatte bereits begonnen: Marshall konnte vereinzelte Tropfen Schmelzwasser sehen, die aus dem Boden des Kältetresors fielen. Am darauffolgenden Tag um sechzehn Uhr – zur besten Sendezeit an der Ostküste – würden die Kameras laufen und die Live-Dokumentation starten. Schließlich würde der Tresor geöffnet werden. Und dann, wie Marshall plötzlich bewusst wurde, würde das Filmteam zusammenpacken und verschwinden, und endlich würde sich wieder Ruhe über den Mount Fear

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