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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Child
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Eis und Schnee hindurch konnte er kaum mehr als die Umrisse der Außengebäude erkennen. Er machte einen zaghaften Schritt, dann einen zweiten. Es war stockdunkel. Gerüste mit Scheinwerfern und Aufbauten schwankten im Sturm wie Spielzeugkonstruktionen und knarrten protestierend unter den wütenden Böen.
    Sie arbeiteten in Schichten: eine Stunde suchen, elf Stunden frei. Sechs Mann drinnen, sechs Mann draußen, wegen des stürmischen Wetters vorübergehend nur drei. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass außer ihm noch zwei arme Schweinebei diesem Wetter unterwegs waren und ihre Zeit mit der sinnlosen Suche verschwendeten. Das war doch mehr als Schwachsinn! Was hatten sich Wolff und Conti nur dabei gedacht?
    Das Gesicht vom Wind abgewandt, trottete er ein Dutzend Schritte zu einem Lagerschuppen. Die Tür des Schuppens klapperte wütend im Sturm. Er zögerte kurz, dann ging er zu dem Außengebäude, in dem die provisorische Kulissenfertigung untergebracht war. Er spähte durch das Fenster ins Innere: leer. Natürlich. War es tatsächlich erst zwei Tage her, dass er dort drin herumgelümmelt und
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, scharfes Dörrfleisch, gekaut hatte, während er sich über die Army-Typen und die lahmarschigen Wissenschaftler lustig gemacht hatte, die an diesem gottverlassenen Ort festhingen? Jetzt waren genau diese Army-Typen und lahmarschigen Wissenschaftler drinnen, im Warmen und Trocknen – und er war hier draußen und fror sich den Hintern ab.
    Fluchend bewegte er sich weiter, zählte seine Schritte, zehn, zwanzig, dreißig – bis zur Zugmaschine des Ice Road Truckers. Er drückte sich hinter einen der riesigen Reifen, um wenigstens ein bisschen Schutz vor Wind und Schnee zu finden. Er war noch keine fünf Minuten draußen und fühlte sich schon halb erfroren.
    Wieder musste er an die beiden anderen denken, die dort draußen irgendwo suchten. Er schalt sich selbst, dass er nicht im Logbuch nachgesehen hatte, als er nach draußen gegangen war. Ein wenig Gesellschaft würde die Zeit vielleicht schneller vergehen lassen. Er öffnete den Mund, um zu rufen, doch der Wind riss ihm sofort den Atem weg, und er machte ihn wieder zu. Warum Energie verschwenden, wenn ihn sowieso niemand hören konnte?
    Er schlurfte weiter, bis sich vor ihm das schwere Geflecht der Einzäunung aus der grauen Suppe materialisierte. Er blieb stehen und streckte die Hand nach dem Zaun aus. Man hatte ihn gewarnt, sich bei diesem Wetter nicht weit von der Basis zu entfernen, und weil Polarbären durch die Tundra streiften, hatte er vor, diesen Rat zu befolgen, wortwörtlich. Er ging einige Meter weiter bis zu den Wellblechwänden des leerstehenden Wachhäuschens und drückte sich daran vorbei. Er würde die Basis einmal umrunden, in Armeslänge vom Zaun – mehr konnte niemand von ihm erwarten. Dann würde er sich für den Rest der Stunde in einem der Außengebäude verstecken und versuchen, sich ein wenig aufzuwärmen.
    Er umrundete die Wachstation, verließ den betonierten Bereich und trat hinaus auf den Permafrost. Der Sturm verdoppelte seine Wucht. Peters trottete schneller, einen Schritt, noch einen, noch einen. Er stolperte vorwärts wie ein Blinder, eine Hand immer am Zaun, die Augen fast geschlossen gegen die Eiskügelchen. Das Heulen des Windes übertönte jedes andere Geräusch und klingelte eigenartig in seinen Ohren. Schon jetzt kam es ihm vor, als wäre er seit einer Ewigkeit hier draußen unterwegs. Mein Gott, es war unerträglich! Blaine hatte recht: Er würde eine Beschwerde verfassen, nicht nur an die Gewerkschaft, sondern auch an den Sender. Er würde es tun, sobald er wieder online war – er würde nicht erst warten, bis sie zurück waren in New York. Es spielte keine Rolle, dass er nur ein einfacher Produktionsassistent war – seine Arbeitsplatzbeschreibung enthielt kein Wort von dem hier, und Wolffs dämliches Gefasel von einem Notfall war nichts weiter als …
    Er stockte. Er nahm die Hand vom Zaun, blickte sich um, hatte für einen Moment die brutale Kälte und den eisigen Wind vergessen.
    Warum war er stehen geblieben? Er hatte nichts gesehen. Und trotzdem waren all seine Sinne schlagartig hellwach, und das Herz hämmerte wild in seiner Brust. Das Leben ein gutes Stück weit östlich des Tompkins Square Park hatte seine Überlebensinstinkte geschärft, doch das hier war nicht New York. Das hier war die gottverdammte Mitte im gottverdammten Nichts.
    Er schüttelte den Kopf, machte ein paar Schritte vorwärts – und blieb

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