Nullpunkt

genommen wurde.»
    «Wussten Sie, dass für kurze Zeit ein Team von Wissenschaftlern hier untergebracht war, als die Basis noch aktiv genutzt wurde?»
    Marshall runzelte die Stirn. «Nein.»
    Logan trank von seinem Tee. «Vergangene Woche hatte ich Zugang zu einem gerade freigegebenen Archiv von Regierungsdokumenten. Ich hatte eigentlich nach etwas anderem gesucht – mittelalterliche Geschichte, rein zufällig – und wollte Einsicht nehmen in die Army-Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich fand die entsprechenden Aufzeichnungen, schön und gut – aber ich fand noch etwas anderes.»
    Er trank einen weiteren Schluck. «Genauer gesagt, ich fand einen Bericht von einem Colonel Rose, geschrieben an den Untersuchungsausschuss der U. S. Army. Rose war zum damaligen Zeitpunkt Kommandant der Fear Base. Es war ein kurzer Bericht – eigentlich nur eine Zusammenfassung. Er sollte einige Wochen später nach Washington fliegen, um persönlich vor dem Ausschuss eine detailliertere Aussage zu machen.»
    «Erzählen Sie weiter.»
    «Der Bericht war falsch abgelegt worden. Er steckte hinter der Akte, nach der ich gesucht hatte – ungelesen und offensichtlich seit einem halben Jahrhundert vergessen. Wie ich bereits sagte, er war sehr knapp. Es ging unter anderem darum, dass die auf der Basis stationierten Wissenschaftler sehr abrupt starben. Innerhalb eines Zeitraums von zwei Tagen im April 1958.»
    «Das
gesamte
Team?»
    Logan machte eine beschwichtigende Geste. «Nicht so laut. Nein, nicht das gesamte Team. Es waren acht Personen. Sieben starben.»
    «Und die achte Person?»
    «Aus Roses Bericht geht nicht hervor, was aus ihr wurde.»
    «Was haben die Wissenschaftler hier oben gemacht?»
    «Ich weiß keine Einzelheiten. In Roses Bericht stand lediglich, dass sie irgendeine rätselhafte Anomalie untersuchen sollten.»
    «Anomalie?»
    «So hat er es genannt. Und seine Empfehlung lautete, die Untersuchungen augenblicklich abzubrechen und auf keinen Fall ein Ersatzteam nach Fear Base zu schicken, das die Forschungen weitergeführt hätte.»
    Marshall starrte nachdenklich in seine leere Tasse. «Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden? Den Namen des überlebenden Wissenschaftlers beispielsweise?»
    «Nichts. Ich habe gründlich nachgeforscht – und glauben Sie mir, Evan, ich habe eine Menge Übung darin, verloren gegangene oder versteckte Informationen wieder ans Tageslicht zu befördern. Wie dem auch sei, zwei Dinge faszinierten mich ganz besonders.» Er beugte sich vor. «Erstens, es waren
zwei
Kopien des Berichts hinter der erwähnten Akte – ich kann nur vermuten, dass eine davon für das Archiv gedacht war und die andere für das Pentagon. Zweitens: Der Ton von Colonel Roses Bericht. Obwohl es sich nur um ein trockenes behördliches Memo handelte, konnte man die Hysterie beinahe
riechen
. Als er die dringende Empfehlung abgab, keine weiteren Wissenschaftler nach Fear Base zu schicken, hat er es ganz genau so gemeint:
dringend
.»
    «Was ist mit dem detaillierten Bericht, den er später persönlichin Washington abgeliefert hat? Seine Aussage muss doch dokumentiert worden sein?»
    «Er hat nie eine Aussage gemacht. Er starb zehn Tage später bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg von der Basis nach Fort Richardson.»
    «Die zweite Kopie dieses Berichts …», begann Marshall. Dann unterbrach er sich. «Die ganze Sache geriet einfach in Vergessenheit?»
    «Das Geheimnis starb mit den Wissenschaftlern. Und mit Colonel Rose.»
    «Sind Sie sicher? Dass niemand davon weiß, meine ich?»
    «Wenn jemand etwas wusste, dann hielt er den Mund, und inzwischen sind alle längst tot. Oder glauben Sie ernsthaft, die Army hätte Sie und Ihr Team nach Fear Base gelassen, wenn sie etwas gewusst hätte?»
    Marshall schüttelte den Kopf. «Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.»
    Logan lächelte schwach. «Verstehen Sie jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dass es manchmal klug ist, sein Wissen für sich zu behalten?»
    Marshall schwieg für einige Sekunden. Dann sah er Logan an. «Und warum genau sind Sie hier, Jeremy?»
    «Um das zu tun, was ich am besten kann. Um das Rätsel zu lösen. Um herauszufinden, was mit jenen Wissenschaftlern damals passiert ist.» Er leerte seine Tasse. «Sie haben recht – der Tee ist gar nicht übel. Lust auf eine weitere Tasse?»
    Doch Marshall antwortete nicht. Er war in Gedanken versunken.

20
    Eine Tür fiel krachend ins Schloss, die Matratze wackelte, und jemand rüttelte ihn unsanft an der Schulter.