Nullpunkt

Als Marshall fertig war, nickte Logan langsam. «Das ist sehr interessant», sagte er. «Aber es beantwortet immer noch nicht die größte Frage von allen.»
    «Und welche wäre das?»
    Logan lehnte sich zurück. «
Was
ist es?»
    «Wir haben uns auch darüber unterhalten. Haben Sie schon einmal vom sogenannten Callisto-Effekt gehört?»
    Logan schüttelte den Kopf.
    «Es ist eine Theorie in der Biologie, die evolutionäre Turbulenzen erklärt. Nach dieser Theorie erscheint immer dann eine neue Kreatur auf der Bildfläche, wenn eine Spezies es sich in ihrer Nische zu sehr bequem gemacht hat. Wenn sie aufhört, sich weiterzuentwickeln, oder wenn sie anfängt, die Ökosphäre zu sehr zu belasten. Diese neue Kreatur ist eine Tötungsmaschine, die die Population der anderen Spezies eindämmen und den Prozess der Evolution wieder anwerfen soll. Ökologisch gesehen eine perfekte Waffe.»
    «Eine sehr faszinierende Theorie. Mit dem kleinen Makel: Es fällt schwer, sich hier oben in der arktischen Kälte eine Bevölkerungsexplosion vorzustellen, der Einhalt geboten werden müsste.»
    «Vergessen Sie nicht, dass wir hier über eine Ökologie sprechen, die vor Jahrtausenden existierte – damals, als diese Kreatur ursprünglich eingefroren wurde. Und selbst damals war angesichts des Klimas sicher keine große Population notwendig, um ein so unfruchtbares Habitat wie dieses übermäßig zu belasten. Wie dem auch sein mag, die Theorie lautet weiter, dass der Callisto-Effekt im Großen und Ganzen eine evolutionäre Anomalie darstellt, weil eine solche Tötungsmaschineviel zu effektiv ist. Letzten Endes wird sie nämlich zu ihrem eigenen größten Feind. Sie tötet alles – und beraubt sich selbst auf diese Weise jeglicher Nahrung.»
    Logan nickte erneut, langsamer diesmal, als würde er ein Steinchen in ein mentales Puzzle einfügen, an dem er arbeitete. «Sie haben es eine ‹perfekte Waffe› genannt», sagte er dann. «Interessant, dass Sie diese Worte benutzen. Ich bin heute schon einmal darauf gestoßen. Verstehen Sie, heute Morgen fand ich ein Notizbuch, das einer der Wissenschaftler damals zurückließ. Er hatte es in seinem Quartier versteckt.» Logan tätschelte mit einem schwachen Lächeln seine Brusttasche.
    «Heute Morgen? Und das erzählen Sie mir erst jetzt?»
    «Ich wusste nicht, dass ich Ihnen Rechenschaft schuldig bin.»
    Marshall winkte beschwichtigend ab. «Entschuldigung.»
    «Die Wahrheit ist, ich habe Ihnen vorher nicht davon erzählt, weil dieses Notizbuch ungefähr so schwer zu lesen ist wie die Linearschrift A der Hagia Triada. Es ist in einem Code verfasst.»
    Marshall runzelte die Stirn. «Warum hätte der Mann seine Notizen verschlüsseln sollen?»
    «Zweifelsohne war er der Meinung, dass es nicht reichte, das Notizbuch nur zu verstecken. Vergessen Sie nicht, das war in den Fünfzigern – mitten im Kalten Krieg. Die Sicherheit wurde damals sehr ernst genommen, und unser Mann wollte wahrscheinlich keine zwanzig Jahre in Leavenworth verbringen. Wie dem auch sei, ich habe den ganzen Tag an der Entschlüsselung gearbeitet.»
    «Sie sind auch Kryptoanalyst?»
    Logan lächelte erneut. «Kommt hin und wieder ziemlich gelegen bei meiner Arbeit.»
    «Und wo haben Sie das Dechiffrieren von Codes gelernt?»
    «Ich war früher bei einer, wie soll ich es sagen … Behörde für Informationsbeschaffung beschäftigt. Wie dem auch sei, ich hatte bisher nur beschränkten Erfolg. Ein paar Worte, den einen oder anderen Satz hier und da. Es ist polyalphabetisch, eine Variante der Vigenère-Verschlüsselung, aber mit einem listigen Dreh. Ich denke, er hat seinen Code außerdem mit einem Schlüsselbuch kombiniert, aber natürlich wurden sämtliche Bücher entfernt, als sie die Quartiere räumten.» Logan griff in die Tasche und zückte ein winziges Notizbuch, abgegriffen, staubig und überzogen von Moderflecken, und legte es neben Marshall auf den Labortisch. Dann klappte er es auf und zog ein gefaltetes Blatt Papier hervor.
    «Hier ist, was ich bis jetzt entschlüsseln konnte.» Er entfaltete das Papier und überflog es. «Einige Einträge sind alltäglicher Natur, Genörgel über das schlechte Essen und die spartanische Unterbringung und die suboptimalen Arbeitsbedingungen – die lasse ich aus. Nur ein Beispiel:
Wir mussten extrem hastig arbeiten. Überall stand ausgepackte Sonarausrüstung herum.
Oder hier:
Die Geheimhaltung macht alles so schwierig. Einzig und allein Rose ist über alles im Bilde.
»
    «Rose?»,