Nullsummenspiel
gefesselt waren. Als sie versuchte, sich zu bewegen, wurde ihr ihre missliche Lage schnell bewusst. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war ein flüchtiger Blick auf schwarz gekleidete Vollstrecker vom BGD, die sie umzingelten, nachdem sie sich von den beiden Menschen getrennt hatte. Danach ein Elektrostoß, ein sengender Schmerz und dann nichts mehr.
Offensichtlich saß sie. Ihre Füße waren gefesselt. In der engen Kapuze klang ihr Atem laut, und jedes verzweifelte Schnappen nach Luft fühlte sich heißer und widerlicher an als das vorige.
Dann hörte sie die mechanisch verzerrte Sprache eines Vokoders, in halbsekündiger Verzögerung gefolgt von einer Übersetzung durch einen Lautsprecher.
»Hallo, Chot Nar.«
Man riss ihr die Kapuze vom Kopf. Helles Licht aus einer einzigen Lampe fiel ihr in die Augen. Sie presste die Lider zusammen und versuchte den Kopf abzuwenden, musste jedoch feststellen, dass auf beiden Seiten Vorrichtungen waren, die das verhinderten. Selbst mit geschlossenen Augen wirkte das Licht grell und war schmerzhaft intensiv. »Bitte geben Sie mir meine Maske.«
»Verräter haben es nicht verdient, das Gesicht der Breen zu tragen.«
»Ich bin kein Verräter. Warum haben Sie mich hierher gebracht?«
»Sie sind hier, um einige Fragen zu beantworten. Und es bringt nichts, Dinge zu leugnen, die wir ohnehin schon wissen. Sie sind eine Dissidentin und eine Unzufriedene.«
Auf der anderen Seite der Lampe stand der Fragensteller, der eher wie ein Halbschatten umgeben von Schatten wirkte: ein leitender BGD-Inquisitor. »Wer sind Sie?«, wollte Nar wissen.
»Meine Identität tut nichts zur Sache«
, antwortete der Inquisitor.
»Hier geht es um Ihre.«
Nar versuchte die überwältigende Scham zu unterdrücken, dass sie mit Gewalt von einem Fremden demaskiert worden war. Es war eine intime Handlung, seine Maske in Gegenwart einer anderen Person abzunehmen, etwas, das man nur unter Freunden und Familienangehörigen tat. Selbst in einer halböffentlichen Umgebung wie dem Labyrinth diente das gegenseitige Helmabnehmen nur dazu, dass sich alle sicherer fühlten. Vor einem Inquisitor, der gleich doppelt verhüllt war – durch seine Maske und die Dunkelheit – fühlte sich Nar verletzlicher als jemals zuvor in ihrem Leben. »Ich bin unbedeutend«, sagte sie.
Sie hörte Schritte. Der Inquisitor umkreiste sie.
»Sie untertreiben. Sie sind Datenanalystin im BGD. Dank Ihres Berufs haben Sie Zugriff auf das urbane Überwachungsnetzwerk und eine Menge anderer Geheimdienstressourcen.«
Seine Schritte wurden lauter, als er von hinten näher kam.
»Sie verkehren regelmäßig mit Chon Min, einem bekannten Agitator, der auch des Diebstahls verdächtigt wird. Er hat Sie mehrmals zu Hause besucht, zuletzt gestern Abend, auf Ihre Einladung hin. Warum haben Sie ihn zu sich eingeladen?«
»Ich erinnere mich nicht mehr«, entgegnete Nar.
»Sie lügen. Dieses Verhalten war zu erwarten, aber wir werden bald etwas dagegen unternehmen.«
Der Inquisitor blieb vor Nar stehen. Aufgrund seiner Größe und seines Körperbaus vermutete sie, dass sich ein Paclu in diesem durch und durch schwarzen Anzug verbarg. Er beugte sich vor, sodass sich die Schnauze seiner Maske direkt vor Nars Gesicht befand.
»Sie haben Ihre Spuren gut verwischt, Nar. Oder sollte ich Sie lieber bei Ihrem Silwaan-Namen nennen, Deshinar Tibbonel?«
Nar runzelte die Stirn, und der Inquisitor legte den Kopf schief, da ihn ihre Reaktion offensichtlich amüsierte.
»Möglicherweise können wir die Daten rekonstruieren, die Sie aus dem lokalen Speicher Ihrer Arbeitskapsel gelöscht haben, Deshinar. Aber selbst wenn sich das als unmöglich erweisen sollte, werden Sie mir garantiert mehr erzählen, als ich wissen will … Sehr viel mehr. Denn ich kenne Sie ganz genau. Ich weiß, was Sie mögen und verabscheuen, was Ihnen gefällt und was Ihnen Angst macht …«
Sie spuckte ihn an. Als ihr Speichel an seiner Obsidianmaske herunterlief, fauchte Nar: »Sie wissen gar nichts über mich.«
»Ganz im Gegenteil, ich kenne jedes Detail Ihres Lebens, und ich weiß auch, wie, wo und wann es enden wird.«
27
Die meisten Breen-Vollstrecker trugen braune Uniformen, ihre Vorgesetzten graue. Sie führten eine anscheinend endlose Reihe an Gefangenen aus den Gebäuden, hinter denen sich der Eingang zum Labyrinth der Dissidenten befand. Sie alle trugen schwarze Kapuzen anstatt Masken. Die Passanten auf der Straße wandten sich ab und widmeten dem Spektakel keinen einzigen
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