Nullzeit
vierzig, trugen bürgerliche Kleidung und hatten zwei fast erwachsene Kinder. Liebe sei ohne Unterordnung gar nicht möglich, sagte der Mann. Wer etwas anderes behaupte, beweise nicht die Modernität seiner Geisteshaltung, sondern nur seine Unaufrichtigkeit. Gleichberechtigung oder gar Freiheit in zwischenmenschlichen Beziehungen stelle eine Illusion dar. Der Unterschied eines SM-Praktizierenden zum Normalbürger bestehe nicht im Besitz eines Folterkellers. Sondern darin, dass der SM-Praktizierende zu dieser Erkenntnis stehe. Die Zuschauer sollten sich nur einmal die Mühe machen, über ihre eigenen Beziehungen nachzudenken.
Antje und ich saßen reglos auf der Couch. Unserer Erstarrung haftete etwas Peinliches an. Als würden wir nicht einfach die Sendung verfolgen, sondern krampfhaft geradeaus blicken, um einander nicht ansehen zu müssen.
Ihre sexuellen Phantasien könnten die Zuschauer gleich mitbetrachten, warf die Frau ein. Sie bezweifle, dass es irgendjemanden gebe, der bei der Masturbation von zärtlichem Vorspiel und Missionarsstellung träume.
Wovon denn dann?, wollte der Moderator wissen, dem es nicht skandalös genug zuging.
Von jungen Dingern, die ordentlich rangenommen werden wollten, sagte die Frau. Von Müttern, die es mit Söhnen trieben. Von Lehrern und Schülerinnen, willigen Prostituierten, langschwänzigen Afrikanern. Ob er noch nie eine handelsübliche Pornoseite besucht habe? Hauptsache Unterwerfung, laute die Devise.
Das Wichtigste im Leben sei, dass man sich aufeinander verlassen könne, erklärte der Mann. Dazu brauche man Regeln. Dann wisse jeder, was er zu tun habe.
Und was der andere tue, ergänzte die Frau. Das gebe Geborgenheit.
Dann sei, was von außen wie die Hölle auf Erden aussehe, im Inneren Glück?, fragte der Moderator.
Wenn er so wolle, ja, erwiderte die Frau.
Äußere Hölle und inneres Glück: An diese Formulierung erinnerte ich mich, wenn Jolas Hand meine Gürtelschnalle streifte. Ich suchte eine Erklärung. Ich wurde das quälende Gefühl nicht los, dass Jola und Theo den Regeln eines Spiels folgten, das ich nicht verstand. Im Grunde verstehe ich es bis heute nicht. Seltsam, dass mir auch im Rückblick keine Erklärung gelingt. Man sollte doch meinen, Erklärungen seien unser wohlverdienter Lohn dafür, dass wir das Vergehen der Zeit ertragen. Wir haben einen Anspruch darauf. Wir werden verrückt, wenn wir sie nicht bekommen.
Jolas Tagebuch, achter Tag
Samstag, 19. November. Früh morgens.
Ich bin glücklich. Wie das klingt. Hätte nie gedacht, dass ich jemals einen solchen Satz schreiben würde. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Eine fremde Frau mit strahlenden Augen und einem wissenden Lächeln. Glück ist immer ein Geheimnis. Glück gehört immer nur einem allein. Über Glück kann man allen möglichen Unsinn schreiben, und es klingt immer irgendwie falsch. Das Schöne ist: Wir haben beide keine Ahnung vom Glück. Ich nicht, und Sven auch nicht. Man sieht es an seiner Verlegenheit. Daran, wie er mich von sich stößt, wenn ich ihn berühre. Wie er ständig versucht, mir auszuweichen. Er will es nicht wahrhaben. Kann nicht glauben, dass er es verdient. Und dann, plötzlich, zieht er mich an sich. Saugt sich an meinem Mund fest. Mitten im Supermarkt. Während seine Tauchlehrerkollegin zuguckt und durch ihre Augen die ganze Insel. Gar nichts wissen wir vom Glück. Svens Antje und mein alter Mann waren keine guten Lehrmeister. Wir müssen es uns selbst beibringen. Jeder auf seine Weise. Sven wehrt sich, ich dränge vorwärts. Wahrscheinlich hat er es schwerer als ich. Mehr zu verlieren. Er muss einen lieben Menschen wie Antje verletzen. Und ich? Nur den alten Mann. Was für ein brutales »Nur«. Ich habe Theo angeboten, ihm einen sofortigen Rückflug nach Berlin zu buchen. Und dass er fürs Erste in der Wohnung bleiben darf. Trennung auf Probe. In Ruhe herausfinden, wie sich alles entwickelt. Bei mir. Bei Sven. Dann weitersehen. Aber er will nicht. Er sagt Sätze wie: Ich überlasse dem kleinen Scheißer nicht das Feld. Ich habe ein Recht darauf, von dir betrogen zu werden. Ich bleibe bis zum bitteren Ende. Und: Im Zweifel kann ich immer noch darüber schreiben.
Das wäre schön, werfe ich ein. Und sehe, wie es in seinen Augen blitzt. Aber er beherrscht sich. Hat sich im Griff. Sagt: Das wäre schön. Genau.
Natürlich wusste ich, dass er nicht nach Hause fahren würde. Habe ich nur gefragt, um ihn zu ärgern? Will ich vielleicht sogar, dass er bleibt?
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