Nullzeit
sagte ich.
Über dem Rand der Mole erschien eine Mastspitze. Das Schiff, zu dem sie gehörte, musste noch ein ganzes Stück weg sein. Kurz darauf war schon das Toppsegel zu sehen, wenig später die Gaffel. Offenbar war der Mast an die vierzig Meter hoch. Die Dorset war groß. Und schnell. Kein Wunder, dass Dave die halbe Insel überquert hatte, um sie willkommen zu heißen. Auch wenn er jetzt nur Augen für Jola besaß. Die anderen Wartenden streckten Arme und Zeigefinger aus und machten sich gegenseitig auf die Mastspitze aufmerksam. Einige hatten Ferngläser dabei.
Theos Hand lag auf meinem Oberarm. Wieder eine vorteilhafte Aufstellung. Jeder konnte sehen, wie gut wir uns verstanden. Flüchtig fragte ich mich, seit wann ich für das Zusammensein mit anderen Menschen das Wort »Aufstellung« gebrauchte.
»Ein Vorteil ist«, sagte Theo, »dass neben mir immer einer steht, der die gleiche Scheiße durchmacht wie ich.«
Aufmunternd tätschelte er meine Schulter.
»Danke auch«, sagte ich. »Aber um das noch einmal klarzustellen: Ich knalle Jola nicht.«
»Ist klar.« Er starrte mit zusammengekniffenen Augen zur Hafeneinfahrt hinüber. »Du bumst sie zärtlich.«
Die Dorset näherte sich rasch. Vermutlich hatte der Skipper Anweisung erhalten, den Hafen unter vollen Segeln anzusteuern. Dass es eindrucksvoll aussah, ließ sich nicht bestreiten.
»Weder noch«, sagte ich. »Im Ernst. Wir haben keine Affäre oder so was.«
Theo fuhr herum, als hätte ihn etwas gebissen. Jede Freundlichkeit war aus seiner Miene verschwunden.
»Weißt du, was Ehre ist?«
Ich schüttelte den Kopf und ärgerte mich im gleichen Augenblick. Natürlich wusste ich, was Ehre war. Ich verstand nur nicht, worauf er hinauswollte. Außerdem stand unsere Aufstellung im Begriff, sich massiv zu verschlechtern.
»Dachte ich mir.« Theo lachte. »Ich hab’s dir neulich bereits erklärt. Knall sie. Genieß es. Aber lüg mich nicht an.«
»Kannst du etwas leiser sprechen?«
»Kannst du erwachsen werden?«
»Hör zu, Theo.« Ich rückte näher an ihn heran und senkte die Stimme. »Ich weiß nicht, was Jola dir erzählt hat …«
»Das nervt!« Er war laut geworden. Ein paar Umstehende sahen uns an. Auch Dave und Jola drehten die Köpfe. »Du weißt es. Ich weiß es. Die ganze Insel weiß es. Ihr gebt euch nicht einmal Mühe, es zu verbergen. Also tu mir einen Gefallen und hör auf mit dem Scheiß.«
»Aber wir haben nicht …«
»Theo!«, rief Jola.
Entweder kannte sie ihn gut genug, um seine Gedanken zu lesen, oder mein Reaktionsvermögen hatte in den letzten Tagen gelitten. Während ich mich noch fragte, warum Jola schrie, hatte Theo mich schon bei den Schultern gepackt. Ich war zu perplex, um mich zu wehren. Wie in Zeitlupe sah ich Menschen beiseite springen. Schon kippte ich nach hinten über den Rand der Kaimauer. Ein glasklarer Gedanke kreuzte mein Bewusstsein: Nicht auf den Steg fallen. Bevor ich den Boden unter den Füßen verlor, drückte ich mich ab, drehte mich halb in der Luft und tauchte ein. Ich wusste sofort, dass ich unverletzt war. Für ein paar Schwimmzüge blieb ich dicht am Grund. Im Hafenbecken war es erstaunlich warm. Kleine Fische pickten an den Kielen der ankernden Boote. Ich schärfte es mir ein: auftauchen, Luft holen, fröhlich lachen. Mir ging die Luft aus. Ich tauchte auf, sah in zwanzig besorgte Gesichter, die sich über die Kaimauer beugten, und lachte.
Erst das abschließende Manöver der Dorset beendete das Gelächter und Gerede über meinen Sturz ins Becken. Während die Segel in sich zusammensanken, stand ich in meiner privaten Pfütze. Wir hörten die Kommandos des Skippers. Ein heiliger Ernst erfasste die Touristen. Jeder hatte plötzlich ein Fernglas vor den Augen. Der Diesel sprang an. Majestätisch lief die Dorset in den Hafen von Puerto Calero.
Ich dachte den Satz: Mein Herz brennt vor Liebe. Genau das fühlte ich. Die Dorset zeigte, was wahre Schönheit bedeutete: nicht Symmetrie, sondern die Verbindung von Kraft und Eleganz. Pure Kraft wirkte plump, bloße Eleganz wie Eitelkeit. Nur das Zusammentreffen der beiden konnte das Innerste anrühren, und genau dort fand ich mich berührt. Jola stand hoch aufgerichtet an der Kante des Kais, abwechselnd von Daves und Theos Armen gehalten. Es sah aus, als käme das Schiff ihretwegen. Stolz und stark und doch so anfällig für Stürme. Ich stand im Hintergrund und war der lustige Tauchlehrer, den seine Kunden aus Spaß ins Wasser warfen. Ich fühlte Liebe
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