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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Brauche ich ihn als Zuschauer? Manchmal frage ich mich, ob mein Glück nur für ihn da ist. Ob es nur existiert, um ihn leiden zu lassen. Ob ohne Theo kein Sven möglich wäre. Dann wäre Sven nicht das Ende von Theos Geschichte. Sondern nur das nächste Kapitel. Eine neue Qualität. Bei diesem Gedanken packt mich der blanke Horror.
    Ich schreie: Du wirst mich nie wieder anrühren. Wenn ich Sven davon erzähle, bricht er dir alle Knochen im Leib! Der bringt dich um! Es klingt nach: Dann hol ich meinen großen Bruder. Wahrscheinlich ist es auch so gemeint.
    Der alte Mann sagt: Du liebst mich. Du bist nicht in der Lage, mich zu verlassen. Das bisschen Meer und Sonne und gute Laune – dafür bist du doch gar nicht der Typ. Du brauchst mich, Jola. Ich muss nur warten, bis du erkannt hast, dass dich der kleine Scheißer nicht glücklich macht. – Ich zittere vor Angst, dass er recht haben könnte.
    Nachts ruft Sven leise vor dem Fenster. Er wartet, bis Antje eingeschlafen ist, bevor er sich rausschleicht. Daran erkenne ich, dass er immer noch nicht mit ihr gesprochen hat. Ich übe keinen Druck aus. Wenigstens eins hat mich der alte Mann gelehrt: Dass man Männer zu nichts zwingen kann.
    Wir gehen ans Wasser. Sven legt eine Isomatte auf die Felsen. Nachts brüllt der Atlantik noch lauter als am Tag. Das Getöse schluckt unsere Schreie. Es ist absolut dunkel. Eine Sorte Dunkelheit, von der Berlin nichts mehr weiß. Selbst wenn der alte Mann nur ein paar Meter entfernt von uns stünde, könnte er uns weder hören noch sehen.
    Über Sex und Ozeane ist viel Kitschiges gesagt worden. Ich fürchte, das trifft alles zu. Meistens geht es schnell. Wir wickeln uns in eine Decke und warten eine halbe Stunde, bevor wir noch einmal beginnen. Langsamer, mit einer anderen Sorte Kraft.
    Manchmal überkommt mich Panik. Ganz plötzlich, währenddessen. Etwas stimmt nicht. Das Ganze ist zu unwahrscheinlich. Ich verliere die Kontrolle. Als könnte sich Sven jederzeit das Gesicht abreißen und darunter käme jemand anderes zum Vorschein. Mein Vater. Oder der alte Mann. Dann mischt sich auf einmal Hass in die Lust. Ich will die Füße anziehen und Sven in den Bauch treten, so dass er rückwärts in die Brandung stürzt. Wenn Theo mich verprügelt, weiß ich wenigstens: Das ist die Realität. Unverkennbar. Sinnlos, unfair und banal. Irrtum ausgeschlossen.
    Solche Gedanken verschwinden bald wieder. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht daran gewöhnt, dass mich einer gut behandelt. Es macht mir Angst.
    Wir gehen zurück, ohne einander zu berühren, und trennen uns wortlos. Jeder auf seine Seite des Sandplatzes, jeder in sein Haus. Am Morgen beim Erwachen: unvermitteltes Glück. Wie ein Kind am Weihnachtsmorgen weiß ich sofort, dass etwas Schönes bevorsteht. Ich stehe auf und koche Kaffee für mich und den alten Mann.

11
    W ir schlenderten zum Hafen. Der Abend war lau. Es gab auf der Insel dreihundert laue Abende pro Jahr, aber diesem haftete etwas Besonderes an. Die Brise war so sanft, dass es schon wieder argwöhnisch machte. Die Konturen von Menschen und Häusern wirkten leicht verschwommen. Dafür schienen sämtliche Geräusche irgendwie schärfer umrandet. Auch Theo und Jola merkten etwas. Während wir die steile Asphaltstraße abwärts gingen, rückte er immer näher an sie heran. Auf der Hafenpromenade erlaubte sie, dass er einen Arm um sie legte. Sie lehnte sogar den Kopf an seine Schulter. Bei dem Anblick empfand ich Erleichterung. Ich ließ mich ein paar Schritte zurückfallen und sah in eine andere Richtung, als gehörten wir gar nicht zusammen.
    Die kleine Menschenmenge fiel schon von Weitem auf. Die Leute standen an der Stelle, wo die Liegeplätze für Yachten von mehr als zwanzig Metern begannen, und sahen nicht aus, als warteten sie auf Sitzplätze in einem der Restaurants. Vielmehr blickten sie quer über das Hafenbecken zum Ankunftssteg an der Innenseite der Mole.
    »Guckt euch die Trottel an«, sagte Jola. »Die warten tatsächlich auf die blöde Stadler.«
    Yvette Stadler war eine berühmte deutsche Sängerin und Schauspielerin, von der ich am Morgen zum ersten Mal gehört hatte. Da Antje in der Lage war, dem spanischen Dampfgeplauder von Radio Crónicas Botschaften zu entnehmen, klärte sie mich beim Frühstück auf: In der Marina von Puerto Calero wurde für den frühen Abend die vom deutschen Eiweißriegel-Erben Lars Bittmann gecharterte Segelyacht Dorset erwartet. An Bord befand sich unter anderem besagte Yvette

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