Nullzeit
und Schmerz und Traurigkeit und war nicht sicher, ob das nicht alles dasselbe war.
Zwei Stunden später am Steuer des VW-Busses lachte ich umso lauter, der schlechten Laune zum Trotz, die mich befallen hatte. Meine Klamotten waren inzwischen getrocknet. Alle denkbaren Witze von Stapellauf über Taufe bis Abkühlung an einem heißen Tag waren bereits am Kai gerissen worden. Aber Jola war noch immer in Höchstform. Ihr Turban lag zerknautscht auf den Armaturen, die Sonnenbrille hing am Rückspiegel. Ihr nackter Fuß, den sie gegen die Windschutzscheibe stützte, hinterließ einen Abdruck, der noch Wochen später zu sehen war, wenn die Scheibe von innen beschlug. Gemeinsam mit Theo rekapitulierte sie die Ankunft der Dorset. Dabei ging es nicht um die Schönheit des Schiffs, sondern um die Tatsache, dass sich »die Yvette« wie vorausgesagt nicht unter den Gästen befunden hatte. Jola machte Bittmann nach, wie er auf der Gangway die Arme ausbreitete: »Sorry, Leute« – sie traf seinen Tonfall fast perfekt –, »die Yvette war dann doch verhindert.« Und noch einmal auf Englisch, für den Fall, dass nicht alle Schaulustigen Deutsche waren: »Sorry, guys, Yvette couldn’t come.« Als Nächstes wurden die fünf Bordgäste parodiert. In Jolas Darstellung waren sie genau in dem Augenblick über die Gangway gekommen, als sich die Menge der enttäuschten Touristen zerstreute, und hatten dann wie bestellt und nicht abgeholt in der Gegend herumgestanden, darauf hoffend, dass sie doch noch jemand erkannte. Ich hatte nur fünf Personen gesehen, die ein Schiff verließen. Auf mich wirkten die Leute völlig normal, aber in Jolas und Theos Augen schien es sich um Witzfiguren zu handeln. Vor Lachen kippte mir Jola halb auf den Schoß. Sonst hatte ich sie bei solchen Gelegenheiten von mir geschoben. Sie gebeten, mir nicht auf die Pelle zu rücken. Im Tonfall des Spaßverderbers darauf hingewiesen, dass ich ein Auto zu steuern hatte. Jetzt versuchte ich, ihr die Hand aufs Haar zu legen. Wollte, dass sie auf meinem Schoß liegen blieb. Ärgerte mich, dass sie sich schon wieder auf Theos Seite lehnte. Ich hätte auch gern etwas gesagt. Aber ich kannte weder den Literaturkritiker noch die Theaterregisseurin oder den Fotografen. Mir blieb nur mein eigenes unerfreuliches Gelächter, um zu beweisen, dass ich dazugehörte.
In Lahora parkte ich den Wagen und stand noch einen Moment am Tor, um zu beobachten, wie Jola und Theo den Sandplatz überquerten und in der Casa Raya verschwanden. Meinen Vorschlag, bei Giselle noch eine Fischsuppe essen zu gehen, hatten sie abgelehnt. Jola wollte etwas kochen. Ich ging ins Haus, fand Antje mit einem Buch auf der Terrasse, zerrte sie ins Schlafzimmer und warf sie aufs Bett. Anders als man es aus Filmen kannte, bereitete es mir trotz allem keine Schwierigkeiten, den richtigen Namen zu rufen.
Jolas Tagebuch, achter Tag.
Immer noch Samstag, 19. November. Abends.
Kleine Mädchen warten auf den weißen Ritter, der sie aufs Pferd hebt und mit ihnen davongaloppiert. Erwachsene Frauen hingegen schließen Verträge. Mal wieder eine Abmachung: Der alte Mann lässt mich in Ruhe, wenn ich ihm auf Wunsch einen runterhole und dabei von Sven erzähle. Von Svens riesigem Schwanz, der mir Mund und Hals ausfüllt, dass ich fast daran ersticke. Von Svens großen Eiern, die in meinen Händen liegen. Davon, wie Sven mich packt und fickt, dass ich zu zerreißen drohe.
Aber Erniedrigung ist ein kompliziertes Geschäft. Da sitzt der alte Mann auf der Couch, sein halbsteifes Geschlecht zwischen meinen Fingern. Hat eine Hand ins Polster und die andere in meine Haare gekrallt, während er schmutzigen Geschichten über mich und unseren Tauchlehrer zuhört. Die Frage, wer hier wen erniedrigt, muss weder gestellt noch beantwortet werden. Er ist 42 Jahre alt und ein Schriftsteller mit einer einzigen Romanveröffentlichung. Die Hose um die Fußknöchel gewickelt, das Gesicht rot vor Anstrengung. Eine gepeinigte, sich selbst peinigende Kreatur.
Das habe ich ihm gesagt. Womit die Abmachung gleich wieder hinfällig wurde. Er hat sich die Hose hochgezogen und ist ins Bad gerannt. Für einen süßen Augenblick des Triumphs gibt das Opfer die eigene Unversehrtheit preis. Ich liebe es, in Theos Augen zu schauen und zu sehen, wie dort etwas zerbricht. Diese ungeheure Verletztheit, weil ausgerechnet ich ihm den Dolchstoß versetze. Es ist so ein wunderbares Gefühl. Für ein paar Sekunden weiß ich, nein, sehe ich deutlich, wie sehr
Weitere Kostenlose Bücher