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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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abwenden, der mit Erdbeeren bedruckt war. Warum Erdbeeren, fragte ich mich.
    »Deine Freunde gehen mir langsam auf die Nerven, weißt du das?«
    Endlich bekam ich die Zähne auseinander.
    »Das sind nicht meine Freunde«, sagte ich. »Das sind unsere Kunden.«
    »Ja, nee, ist klar, Sven«, sagte Antje und ging wieder ins Bett.
    Plötzlich erfasste mich Ekel. In der Casa regte sich nichts mehr. Ich legte mich auf die Couch, um auf den Morgen zu warten.

Jolas Tagebuch, neunter Tag.
    Sonntag, 20.  November. Sehr früh morgens.
    Bella Schweig ist eine Schlampe. Aber immer Opfer. Niemals Täter. Wer will schon Täter sein? Niemand. Außer vielleicht im Moment der Tat. Aber die Tat ist kurz. Danach beginnt die potenzielle Ewigkeit, in der alle Sympathie den Opfern gehört. Opfersein liegt den Menschen im Blut. Schon der kleinste Junge ruft: »Der hat angefangen!«, nachdem er einen anderen verhauen hat. Vierjährige Mädchen beherrschen den lammfrommen Augenaufschlag perfekt, weil sie ihn vor dem Spiegel trainiert haben. Deshalb tun sich Menschen in Paaren, Wohngemeinschaften, Vereinen, Parteien und Gesellschaften zusammen: damit immer ein anderer da ist, der an allem schuld sein kann. Opfersein ist eine Kunst, die leicht fällt, wenn sich ein geeigneter Mitspieler findet. Einer, der dumm genug ist, den Schwarzen Peter zu ziehen. Der zuhaut, ohne nachzudenken, und hinterher um Entschuldigung bettelt. Eine gigantische Unschuldsrendite wirft so ein williger Täter ab! Ein anwachsendes Unschuldskonto, eine Unschuldsaltersvorsorge. Wer seinen eigenen Täter besitzt, muss sich nie wieder um die Opferrolle sorgen.
    Wer würde sich schon freiwillig aus einer so lukrativen Beziehung lösen? Richtig: Keine Sau wäre so bescheuert. Der Täter lächelt ein bisschen, ein leiser Pfiff, und das vernünftige Opfer kehrt in die Win-Win-Situation zurück. Selbstachtung, Selbstschutz oder auch nur ein Funken Wille zur Selbstverteidigung? Nix da, man will bleiben, wo man ist, behaglich eingerichtet im eigenen Leid, my doom is my castle , schließlich hatte man eine schwere Kindheit, einen Vater, der nie da war, sofern nicht gerade eine Party gegeben wurde, und eine Mutter, die mit dem Kampf gegen das Vergehen der Zeit vollauf beschäftigt war. Offensichtlich reicht das für lebenslange Selbstveropferung. Was macht schon das bisschen Nasenbluten, solange man weiß, es ist für einen guten Zweck. Auch wenn es gar nicht mehr aufhören will.
    Morgen wird der alte Mann Sven erzählen, der Stuhl sei unter ihm zusammengebrochen. Lachend wird er schildern, wie er sich im Stuhl zurückwarf und –krach! – ins Leere fiel. Haha, das gute Inselessen, haha, der gute Inselwein! Er wird großzügig anbieten, den Stuhl zu ersetzen, von meinem Geld, by the way , aber wir wollen nicht kleinlich sein. Vielleicht wird er mit zu vielen Worten ein letztlich belangloses Ereignis schildern, aber er ist halt Schriftsteller und als solcher daran gewöhnt, seine Lügen auszuschmücken.
    Sven wird ihm glauben. Mit Lügen hat er keine Erfahrung. Wie er am Hafen geguckt hat! Diese unendliche Verlassenheit, die aus seinen Augen sprach. Ein Schiff wird kommen, aber nicht zu ihm. Dabei ist er es, der sich Zeit erbittet. Nichts überstürzen. Bloß keine Fakten schaffen. Mit Antje hat er immer noch nicht gesprochen. Aber ich weiß das einzuschätzen. Es liegt nicht an mangelnder Liebe. Männer sind einfach feige. Deshalb eignen sie sich so gut zu Tätern. Halt: Sven ist kein Täter. Sven ist selbst ein Opfer. Man muss ihm nur zuhören. Er hat Deutschland nicht als Gewinner, sondern als Verlierer verlassen. Und faselt jetzt gern vom Kriegszustand.
    Gehst du zu Theo zurück?, fragte sein Blick am Hafen. Habe ich ihn denn verlassen?, antwortete ich stumm.
    Heute Nacht hat Sven nicht unter dem Fenster nach mir gerufen. Nachdem der alte Mann eingeschlafen war, bin ich trotzdem runter zum Meer gegangen. An unsere Stelle. Allein macht mir das Tosen der Wellen Angst. Als könnte das Stück Fels, auf dem ich sitze, jederzeit fortgerissen werden.
    Ich darf gar nicht daran denken, wie ich mich vorhin im Auto benommen habe. Wie ich zwischen Liebhaber und Lebensgefährten saß und mich anbiederte. Die Witze über Bittmanns Gäste dienten nur dazu, dem alten Mann zu gefallen. Weil er ein paar Minuten lang freundlich zu mir war. Weil er versucht hatte, um mich zu kämpfen, indem er Sven ins Wasser warf. Der leise Pfiff des Täters, der das Opfer zurückkehren lässt. Könnte ich das

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