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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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er mich liebt. Wann kann man Liebe schon einmal sehen ? Selten ist das, kostbar. Daran werde ich denken, wenn er zurückkommt und –

12
    A ls Antje eingeschlafen war, stand ich wieder auf. Ich hatte mich verausgabt, ich hatte nicht zu Abend gegessen, wir hatten es zweimal hintereinander gemacht. Wobei sich Antje beim zweiten Anlauf eher für eine sportliche Anstrengung zur Verfügung gestellt hatte, Spielfeld und Publikum in Personalunion. Meine Knie zitterten. Minutenlang stand ich vor dem geöffneten Kühlschrank und betrachtete die Reste von Antjes Tapas unter Zellophan. Todds vorwurfsvoller Blick erklärte mich zu jener Sorte Ganoven, die nicht einmal das, was sie selbst nicht wollen, an die Bedürftigen weitergeben.
    Nach einem sinnlosen Spaziergang durchs Wohnzimmer ließ sich nicht länger vertuschen, dass es mich an den Computer zog. Wie immer sperrte ich Todd aus und hielt, während der Rechner hochfuhr, nach Emil Ausschau, der sich heute nicht zeigen wollte. Inzwischen kannte ich mich in der Serie gut genug aus, um der Handlung zu folgen, die Figuren sympathisch oder unsympathisch zu finden und mit einiger Sicherheit zu wissen, wann Bella das nächste Mal auftauchen würde. Seit sie wieder mit ihrem Ex-Freund, dem Arzt, zusammen war, bereiteten mir ihre Auftritte besonderes Vergnügen. Es wurde viel geküsst, gesäuselt und gefummelt, obwohl völlig klar war, dass der Arzt seine Affäre mit einer Krankenschwester nicht beenden würde. Bella hingegen benutzte ihn nur, um an Medikamente heranzukommen, mit deren Hilfe sie sich an einem Regisseur rächen wollte, der sie für eine Wunschrolle nicht besetzt hatte. Gerade hatte Bella den Arzt in flagranti mit der Krankenschwester ertappt und lieferte ihm eine Szene, als ich Musik hörte. Laute Musik. Ich stand auf und zog den Vorhang beiseite. Hinter mir im Flur begann Todd zu bellen.
    Mein Blick ging direkt ins Wohnzimmer der Casa Raya hinein. Wenn der Raum bei Nacht erleuchtet war, präsentierte er sich wie eine Bühne. Ich sah – ich wusste nicht genau, was ich sah. Ich sah zwei Menschen, die ausgelassen zu tanzen schienen. Sie umfassten einander, taumelten zurück, umkreisten sich, prallten zusammen. Mal verschwand einer, als wäre er gestürzt oder kurz aus dem Raum gerannt. Gleich darauf schwankten sie wieder eng umschlungen, gingen gemeinsam zu Boden, kamen erneut auf die Beine.
    Der Wunsch, dabei zu sein, presste mich an die Scheibe. Ich sah eine Energie, die in meinem Leben nicht vorkam. Weshalb es, wie mir schlagartig klar wurde, kein richtiges Leben war. Ich hatte beide Hände flach gegen das Glas gelegt, sah mit aufgerissenen Augen hinüber und hätte in diesem Moment alles geopfert, um Teil dieser Szene zu sein. Jenseits der Kontrolle. Jenseits der Strategie. Jenseits der Flucht. Auch noch, als ich begriff, dass es sich nicht um einen Tanz handelte. Erst fühlte ich mich abgestoßen. Dann wurde das Bedürfnis hinüberzulaufen sogar noch dringender. Aber ich blieb stehen. Meine Fäuste ballten sich an der Fensterscheibe. Es ging mir nicht darum, die Vorgänge in der Casa zu verhindern. Ich wollte mitmachen, das war alles. Mich hineinstürzen. Gegen die Musik anschreien und nicht mehr Sven, der nette Tauchlehrer sein. Ich wusste nicht, was mich mehr erschreckte – das, was ich sah, oder meine Reaktion. Drüben hob eine der Gestalten einen Gegenstand über den Kopf. Einen relativ großen Gegenstand. Einen Wohnzimmerstuhl. Der nette Tauchlehrer wäre längst eingeschritten. Was auch immer sich da drüben abspielte, er hätte es unterbrochen.
    Stattdessen war es Todd, der etwas unternahm. Sein kleiner Körper flitzte über den Kiesweg vor der Residencia. Hysterisch kläffend rannte er über den Sandplatz, die Treppen zur Casa hinauf und warf sich gegen die Tür. Die Musik verstummte, die Lichter gingen aus. Träge arbeitete die Logikmaschine in meinem Kopf: Jemand musste den Hund aus dem Haus gelassen haben. Ich fuhr herum. Antje stand in der Tür des Arbeitszimmers. Schnell schaute ich zum Monitor. Der Bildschirmschoner verbarg Bellas Gesicht. Antje war meinem Blick gefolgt.
    »Ach, Sven«, sagte sie. »Keine Sorge. Ich weiß sowieso, was du hier machst. Du löschst die Browser-Chronik nicht.«
    Ich wusste nicht, was eine Chronik war. Ich starrte sie an. Ihr blondes Haar war zerzaust, woran ich mitgewirkt hatte.
    »Was ist denn da los?«, fragte sie.
    Auch darauf wusste ich nichts zu erwidern. Ich konnte die Augen nicht von ihrem Morgenmantel

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