Nullzeit
lebensbedrohliche Stromstöße erzeugen konnten.
Laura erzählte gern, wie sie sich einmal rückwärts treiben ließ, um ihre Tauchgruppe im Auge zu behalten, und dabei mit der Flosse einen Zitterrochen aufstörte. Das Tier schnellte vom Grund hoch, schlug vor Lauras Nase einen vollen Salto und traf sie am Ellbogen. Zweihundert Volt unter Wasser. Nicht unbedingt ein Grund zum Sterben, solange man bei Bewusstsein blieb. Laura verglich das Gefühl mit einem Faustschlag direkt auf den Solarplexus. Angeblich wusste sie noch, was ihr durch den Kopf gegangen war. Dass sie auf keinen Fall ohnmächtig werden durfte, weil die Tauchanfänger nicht in der Lage gewesen wären, sie zu retten. Dass sie ihre Lizenz in die Tonne treten konnte, wenn der panische Fisch einen ihrer Kunden erwischte. Und dass es ein gutes Zeichen war, diese Gedanken noch fassen zu können. Sie schaffte es mit ihrer Truppe an die Oberfläche. Zwei Wochen lang übernahm ich Lauras Kunden, bis sie sich wieder in der Lage fühlte, ins Wasser zu gehen.
Ich hob die Hand und bedeutete Jola und Theo, sich auf den Grund zu knien. Dann zeigte ich mit der einen auf den Zitterrochen und zog die andere an meinem Hals entlang, als wollte ich mir selbst die Kehle durchschneiden. Beide nickten, sie hatten die Geste verstanden: tödlich.
Ich ließ sie ein Stück näher herankommen, der Abstand von einem guten Meter hatte sich bewährt. Zitterrochen waren im Grunde nicht aggressiv. Sie verteidigten sich in einem vorhersehbaren Radius, wenn sie sich angegriffen fühlten. Seit Lauras Erlebnis hatte ich das Kunststück einige Male durchgeführt, es hatte immer gut funktioniert. Ich zog eine Flosse vom Fuß, fasste sie mit beiden Händen und führte dicht über dem Rücken des Tiers einige Schläge aus. Die Druckwelle blies ihm den Sand vom Rücken. Jetzt erkannte man die Schneemann-Form und die Marmorierung. Ein äußerst blasses Exemplar. Ich wedelte ein weiteres Mal und berührte den Fisch dabei mit meiner Plastikflosse am Schwanz, um ihn weiter zu reizen. Er sollte den Salto vorführen. Einen Zitterrochen hatten Jola und Theo noch nicht gesehen. Das wäre die überfällige Sensation, die sie in ihren Logbüchern vermerken konnten. Zurück an der Oberfläche würde ich ihnen die Stromstärke erklären und Lauras Geschichte erzählen, vielleicht sogar behaupten, das Ganze sei mir selbst zugestoßen.
Aber es passierte nichts. Schlaff schwankte der Körper des Rochen mit der Wasserbewegung. Er sah aus wie ein großer Putzlappen. Ich probierte es noch ein paarmal, wedelte mit meiner Flosse, als wollte ich ein Lagerfeuer anfachen. Entweder schlief der Fisch wirklich tief, oder er hatte schlicht keine Lust, sich ärgern zu lassen. Endlich gab ich auf und machte mich daran, meine Flosse wieder anzuziehen.
Was folgte, lässt sich am besten in ganz einfache Worte fassen: Jola schubste Theo. Der Moment war gut abgepasst. Theo hatte sich vorgebeugt, um mit der Unterwasserkamera ein paar Aufnahmen von dem apathischen Tier zu machen. Er hatte beide Arme vor dem Körper erhoben und den Schwerpunkt weit nach vorn verlagert. Kaum ein halber Meter lag zwischen der Kamera und der Rückenhaut des Tieres. In dieser Haltung brachte Jolas Stoß ihn völlig aus dem Gleichgewicht. Auch wenn der Wasserwiderstand die Bewegung verlangsamte, kippte Theo zu schnell nach vorn, um richtig reagieren zu können. Statt sich zur Seite zu drehen, ließ er die Kamera los und streckte die Arme aus, um sich am Grund abzufangen. Aber da lag der Rochen. Mit verzweifeltem Rudern versuchte Theo, Abstand zu gewinnen und die Berührung zu vermeiden. Ich war zu weit weg, um ihn mit den Händen zu erreichen, also trat ich nach seinem Oberschenkel, um dem Sturz eine andere Richtung zu geben. Das hätte klappen können. Aber im selben Augenblick wurde es dem Rochen zu viel. Ein Zittern durchlief das eben noch schlaffe Tier, es straffte sich zu geballter Kraft.
Niemand weiß, wie es in der Seele eines Rochen aussieht. Statt Theo einen heftigen Stromstoß zu versetzen, entschloss er sich zur Flucht. Ein paar heftige Flügelschläge trugen ihn davon. Zehn Meter weiter fühlte er sich bereits vor neuen Belästigungen sicher, ließ sich auf den Grund sinken und schaufelte sich mit den Rändern seines scheibenförmigen Körpers Sand auf den Rücken. Theo kniete auf allen Vieren an der Stelle, wo eben noch der Rochen gelegen hatte. Sein heftiges Keuchen ließ eine Säule aus Luftblasen über ihm aufsteigen. Ich versuchte
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