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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Aufgabe hätte darin bestanden, das Systematische in Jolas Verhalten zu erkennen. Juristen sagt man einen sechsten Sinn für Strukturen nach. Aber ich war eben kein Jurist, sondern Tauchlehrer. Statt den beiden einen schönen Urlaub zu wünschen und das Weite zu suchen, kam ich zu dem Schluss, dass Jola nicht ganz unrecht hatte. Wäre Theo mit dem Rochen kollidiert und tödlich verunglückt, hätte man mich vielleicht wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Vielleicht sogar wegen Mordes. Das Motiv wäre klar gewesen, wenn die halbe Insel im Zeugenstand von meiner angeblichen Affäre mit Jola berichtet hätte.
    Für den Rest des Tages trennten wir uns. Theo und Jola wollten noch ein wenig in der Stadt bleiben, später essen gehen und sich ein Taxi zurück nach Lahora nehmen. Ich war dankbar für den freien Abend. Ich steuerte den VW-Bus durch die Vulkanlandschaft und genoss es, allein im Auto zu sitzen.
    Es ist leicht, ein vergangenes Ich zu verurteilen. Wie dumm man doch war, wie wenig man begriffen hat. Erst im Rückblick zeigen sich Muster, wenn auch keine Erklärungen. So können wir sicher sein, mit unseren Versuchen, alles richtig zu machen, notorisch zu spät zu kommen.

Jolas Tagebuch, zehnter Tag.
    Montag, 21. November. Nachmittags.
    Mir bleibt nicht viel Zeit. Er kann jeden Moment zurückkommen. Ich sitze vor Käsekuchen und Filterkaffee zwischen deutschen Touristen. 15:32 Uhr im Café Wunder Bar . Vor knapp einer Stunde hat Theo mal wieder versucht, mich umzubringen. Klingt wie der Anfang eines Krimis. Ist es aber nicht. Vielleicht sollte ich gleich einen Hilferuf absetzen: Wenn Sie diese Aufzeichnungen finden, verständigen Sie sofort die Polizei! Erkundigen Sie sich nach dem Verbleib einer gewissen Jolante von der Pahlen. Ist sie verschwunden? Ist ihr etwas zugestoßen? Sagen Sie der Polizei, dass es kein Unfall war! Man soll den Schriftsteller Theodor Hast befragen und nicht vergessen, dass er es im Verdrehen der Wahrheit zu wahrer Meisterschaft bringt. Das ist sein Beruf.
    Wie dreist er den armen Sven angegangen ist! Er habe das Handzeichen falsch gedeutet und den Fisch für tot gehalten. Der tote Fisch und die Schauspielerin – ha, ha. Ich frage mich, ob er sich so etwas zurechtlegt, bevor er beschließt, mich auf einen Zitterrochen zu stoßen? Oder ist er genial genug, eine solche Geschichte spontan zu erfinden? Droht er doch tatsächlich mit einer Anzeige, während uns Sven mit Fug und Recht den Laufpass geben könnte. Aber frech kommt eben weiter. Am Ende dachte Sven wirklich, er sei an allem schuld.
    Jetzt sucht der alte Mann einen Geldautomaten, um eine größere Summe von meinem Konto abzuheben, mit der er mich heute Abend zum Essen ausführen wird. So ein gescheiterter Mordversuch muss gefeiert werden. Wahrscheinlich wollte er mich nicht einmal töten. Ein hübsches Spielzeug macht man doch nicht absichtlich kaputt. Man will nur wissen, wie viel es aushalten kann. Man will sehen, wie es am Grund des Meeres einen 200-Volt-Tanz aufführt. Wie es die Augen verdreht, epileptisch zuckt, Wasser schluckt, das Bewusstsein verliert. Was für ein Spaß.
    Hat er gedacht, Sven sieht nicht, dass er mich stößt? Oder legt er es sogar darauf an? Vielleicht geht es gar nicht um mich. Vielleicht soll das eine Art Selbstmord werden. Vielleicht verprügelt mich Theo direkt am Wohnzimmerfenster und schubst mich vor Svens Augen auf einen tödlichen Fisch, um Sven zu provozieren. Bis der gar nicht mehr anders kann, als mich zu rächen und den alten Mann beim nächsten Tauchgang an irgendeinen Felsen zu hängen. Theo ist schlau genug, um zu wissen, dass es für einen erfahrenen Taucher wie Sven ein Leichtes sein muss, einen Unfall zu inszenieren. Keine Spuren. Keine Zeugen. Dann wäre ich weniger als ein Spielzeug. Weniger als ein Instrument. Nur eine Art Köder. Das Stück Käsekuchen in der Rattenfalle.
    Vielleicht werde ich verrückt. Ich fühle gar nichts mehr. Dafür arbeitet mein Kopf unablässig. Ich erinnere mich, dass ich mit Sven reden wollte. Dass er mich retten sollte. Aber dann schien mir Sven plötzlich surreal. Eine Figur, flach wie Pappe. Als hätte ich ihn erfunden. Wie soll man von der eigenen Erfindung gerettet werden? Verraten Sie mir das mal, wenn Sie mit Ihrer Aussage bei der Polizei fertig sind. Und vergessen Sie nicht, mit der Küstenwache zu reden. Die müssen den Atlantik nach den Überresten der Schauspielerin oder des Schriftstellers absuchen. Vielleicht sogar von beiden. Bis vierzig

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