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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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gar nicht erst, ihn zurückzuhalten, als er eigenmächtig den Tauchgang abbrach und mit dem kontrollierten Aufstieg begann.
    Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen oder tun würde, sobald wir Land erreichten. Statt strukturierter Gedanken schossen Bilder durch meinen Kopf. Wie ich mit Jola oben an der Promenade auf einer Bank gesessen und ihr die Stacheln eines Seeigels aus der Fußsohle gezogen hatte. Wie sie bei Dunkelheit, Wind und Regen am Rand der Steilklippe von Famara mit Theo kämpfte. Das alles schien bereits so weit zurückzuliegen, dass ich mich erstaunt fragte, wie viel Zeit wir schon zusammen verbracht hatten. Wenn ich allerdings versuchte, das unmittelbare Jetzt zu begreifen, in dem wir auf dem Rücken Richtung Landungssteg schwammen, musste ich feststellen, dass mir auch dieses Bild bereits wie eine Erinnerung vorkam. Als wäre die Gegenwart nichts weiter als ein besonders deutlicher Rückblick in die Vergangenheit.
    Auch der beste Plan, die schönste Standpauke oder der feste Entschluss, Jola und Theo endgültig zum Teufel zu schicken, hätten nicht weitergeholfen. Denn auf das, was kam, als wir die glitschigen Stufen zum Kai hinaufgeklettert waren, konnte man sich nicht vorbereiten. Weil es schlicht nicht vorherzusehen war. Wir hatten uns, gebückt unter den schweren Flaschen, in unseren triefenden Gummianzügen durch die Urlauber auf der Promenade geschlängelt und endlich das Auto erreicht. Jola zitterte am ganzen Körper. Nicht vor Scham, nicht vor Aufregung, nicht einmal vor Kälte – sondern vor Wut. Kaum hatte sie die Flasche abgesetzt, die Flossen zu Boden geworfen und die Maske vom Hals gerissen, ging sie auf mich los.
    »Bist du wahnsinnig, einfach so zu machen«, sie fuhr sich mit der Hand über die Kehle, »wenn der Fisch noch lebt?«
    »Das«, auch ich führte die Geste mit der Hand an der Kehle aus, »war ein tödlicher Fisch!«
    Entgeistert starrte sie mich an.
    »Und dann wedelst du den Sand runter, damit wir ihn besser sehen können, oder was?«
    »Ich wollte ihn wecken, damit er euch seinen Salto zeigt.«
    »Direkt vor uns?«
    »Das war nicht mein erster Zitterrochen, Jola.«
    »Der war doch blass und schlaff wie eine Leiche. Ich dachte, der wäre tot!« Noch einmal wiederholte sie meine Geste. »Theo hätte sterben können!«
    »Weil du ihn geschubst hast!«, rief ich.
    »Nein!« Sie stand dicht vor mir, die Arme verschränkt, die Brust unter dem engen Neopren wie in Plastik modelliert. Kurz dachte ich, dass sie vielleicht gar nicht wütend war. Dass es ihr einfach Spaß machte, sich so aufzuführen.
    »Weil du ein Signal gibst, das nicht abgesprochen war«, sagte sie. »Schon mal davon gehört, dass man nur verabredete Handzeichen benutzt? Aus Sicherheitsgründen? Gehört doch zum Do-it-Right-Prinzip, das du so schätzt!«
    Langsam ging mir ihr Tonfall auf die Nerven.
    »Die Geste ist allgemeinverständlich.«
    »Ist sie nicht, wie man sieht.«
    » Du hast Theo doch gestoßen!«
    »Versuch nicht, den Spieß rumzudrehen. Du trägst die Verantwortung. Du hast falsch kommuniziert, also liegt die Schuld allein bei dir. Wenn Theo was passiert wäre, müsstest du dafür geradestehen.«
    Sie drehte ab und trat vor Theo, der am Auto lehnte und sich eine Zigarette angezündet hatte. Er sah aus wie ein unbeteiligter Zuschauer, mit ruhiger Neugier darauf wartend, wie die Szene weitergehen würde. Auch mir kam das Stück Bürgersteig, auf dem wir standen, wie eine Bühne vor. Kein schönes Gefühl.
    »Tut mir leid, Theo.« Sie streichelte ihm über die Wange wie einem kleinen Jungen, der sich das Knie aufgeschlagen hat. »Sollte ein dummer Scherz sein. Theo und der tote Fisch. Ha, ha.«
    »Schon gut«, sagte Theo, zog an seiner Zigarette und ließ Jola nicht aus den Augen.
    »Svens Fehler. Beschwer dich bei ihm.«
    Über die Schulter warf sie mir einen letzten vernichtenden Blick zu, dann stolzierte sie um den VW-Bus herum und damit außer Sichtweite. Eine andere Möglichkeit für Auf- und Abtritte gab es nicht.
    Wahrscheinlich hätte ich genau in diesem Moment begreifen müssen, welches Spiel Jola trieb. Hinweise hatte sie zur Genüge geliefert. Neben Lottes Biographie las Jola unzählige Sachbücher über das Tauchen und die Unterwasserwelt. Ausgerechnet sie sollte nicht gewusst haben, wie ein Zitterrochen aussah und was mein warnendes Signal zu bedeuten hatte? Und als ich versucht hatte, den Rochen zu reizen, da glaubte sie – was? Dass ich mit einem toten Tier herumspielte? Meine

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