Nullzeit
Meter Tiefe.
15
S chon während ich mich dem Sandplatz näherte, sah ich, dass Antje nicht zu Hause war. In all den Jahren hatte ich ihr nicht beibringen können, das Tor erst zu schließen, wenn auch der VW-Bus auf dem Grundstück stand. Immer, wenn ich nach Hause kam, hieß es aussteigen, Tor öffnen. Es gab Tage, an denen ich mich maßlos darüber ärgerte. An diesem Nachmittag hingegen frustrierte es mich, dass das Tor offen stand. Es bedeutete, dass Antje nicht da war. Ich hatte mich darauf gefreut, den Abend mit ihr zu verbringen. Essen, reden. Den vergangenen und den bevorstehenden Tag besprechen. Im Licht der Esszimmerlampe die Köpfe zusammenstecken. Fast kam es mir vor, als betrachtete ich dieses Bild durch ein erleuchtetes Fenster, während ich selbst auf einer winterlich kalten deutschen Straße stand.
Das Haus dröhnte geradezu vor Stille ohne Todds Gekläff. Im Grunde war nichts Ungewöhnliches daran, dass Antje nachmittags in die Stadt fuhr, einkaufte, Freundinnen traf oder sich um ein Ferienapartment kümmerte. Nur dass sie normalerweise anrief und fragte, was ich gerade mache. Ob sie am Tauchplatz vorbeikommen, frische Tauchflaschen oder heiße Suppe mitbringen solle. Wenn für den Abend nichts weiter anstand, verabredeten wir uns manchmal auf Kaffee und Käsekuchen im Café Wunder Bar . Oder gingen mit Todd auf der Promenade spazieren. Plötzlich wurde mir klar, wie viel sich verändert hatte, seit Jola und Theo auf der Insel waren.
Ich schob die taillierte Espressokanne auf den Herd und füllte ein großes Glas mit Zitronenlimonade. »Es sich ein bisschen schön machen« stellte eine weibliche Technik dar; trotzdem war ich fest entschlossen, genau das zu versuchen. Neben der Wohnzimmercouch sammelte ich die verstreuten Seiten von Theos Kurzgeschichte ein und brachte sie in die richtige Reihenfolge. Ich trug Kaffee und Limonade auf die Terrasse, stellte einen Behälter mit Eiswürfeln bereit und schob den Liegestuhl in den Schatten.
Zwei Stunden später wählte ich Antjes Nummer. Nur die Mailbox ging dran. Für den Fall, dass sie sich in einem Funkloch befand, rief ich noch dreimal an, jeweils im Abstand von einigen Minuten.
Nur mit Mühe hatte ich Theos Geschichte zu Ende gelesen. Am Ende hatte ich regelrechten Widerwillen gegen die Schreibmaschinenschrift empfunden. Als hätte der Inhalt der Worte auf das Papier abgefärbt. Als könnte ich mir daran die Finger schmutzig machen.
Die Sonne war hinter den Flachdächern der leeren Nachbarhäuser versunken. Antje kannte sich mit Literatur aus. Ich wollte sie fragen, wie viel echtes Leben in einer Geschichte steckte. Ob ein Autor, der etwas Scheußliches bis ins Detail beschrieb, sich damit auch praktisch auskennen musste. Ich verstand nicht, warum Theo mir die Geschichte gegeben hatte. Bei mir erzeugte sie das Gefühl, ihn nie wieder sehen zu wollen. Beim Lesen hatte ich mehrmals kurz davor gestanden, Bernie anzurufen und zu fragen, ob er Jola und Theo übernehmen wollte. Allerdings gehörte es zu meinen Grundsätzen, erst im Nachhinein Geld von den Kunden zu nehmen, weshalb ich von Jola und Theo noch keinen Cent gesehen hatte. Kündigte ich jetzt den Vertrag, würde ich höchstwahrscheinlich in die Röhre gucken. Antje und ich brauchten die 14.000 Euro dringend. Deshalb wollte ich mit ihr reden. Ich wollte sie fragen, ob es nicht besser wäre, einen Typen, der solches Zeug schrieb, vor die Tür zu setzen. Dann sollte sie mich ansehen, als hätte ich einen Witz gemacht: Du willst den besten Auftrag deines Lebens platzen lassen, weil dein Kunde eine Geschichte geschrieben hat, in der zwei Menschen nicht nett zueinander sind? Hat dir schon mal jemand verraten, dass Literatur niemals von netten Dingen handelt, auch nicht auf Inseln? Du benimmst dich wie ein Kind, das sich nach einem Gruselfilm im Dunkeln fürchtet! Vielleicht würde das elende Gefühl verschwinden, wenn ich sie so reden hörte.
Wieder die Mailbox. Antje schaltete niemals ihr Telefon aus. Das Gerät war stets frisch aufgeladen und betriebsbereit. Erreichbarkeit stellte für sie eine Art Existenzbeweis dar. So wie manche Physiker glaubten, dass es den Mond nicht gab, solange niemand hinsah, so glaubte Antje, dass verschwand, wer nicht angerufen werden konnte. Dass sie nicht ans Telefon ging, kam praktisch nicht vor. Noch einmal die Mailbox. Ich beschloss, es nicht weiter zu probieren. Glücklicherweise gehörte ich nicht zu den Menschen, die immer gleich dachten, dem anderen sei
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