Nullzeit
Sag ihr, der Wein ist fast alle. Wahnsinnssternenhimmel, den ihr da habt.«
Er hatte die Treppe der Casa Raya schon erreicht und drehte sich noch einmal um.
»Dass ich dich gestern ins Wasser geworfen habe, tut mir leid. Und vergiss nicht, mir zu sagen, was du für den Stuhl bekommst.«
Die Tür krachte hinter ihm ins Schloss. Erst als drinnen das Licht anging, fiel mir auf, dass die Casa im Dunkeln gelegen hatte. Als wäre Jola gar nicht zu Hause. Nur dass man am Ende der Welt ohne Auto nirgendwo hinkommt. Außer zum Wasser. Vielleicht schlief sie. Oder saß bei ausgeschaltetem Licht am Esstisch und blickte vor sich hin. Ich versuchte, an die Paella zu denken, verspürte aber keinen Hunger mehr.
In der Nacht träumte ich von Jola. Sie tanzte vor einem Pult, an dem zwei Männer saßen. Der eine war Theo, den anderen erkannte ich nicht. Musik war nicht zu hören, dafür klangen Jolas nackte Füße auf dem Boden umso lauter. Mit dem Tanz bewarb sie sich um eine Rolle. Sie trug eine Taucherbrille und den roten Bikini. Während die Männer ihr zusahen, holten sie sich unter dem Tisch einen runter. Jola beendete ihren Tanz, bevor die Männer ans Ziel gekommen waren. An einem ziehenden Schmerz in den Lenden erkannte ich, dass es sich bei dem zweiten Mann um mich selbst handeln musste.
»Schön, Frau von der Pahlen«, sagte Theo, während Jola schwer atmend vor uns stand. »Und jetzt buchstabieren Sie Montesquieu.«
Jola stotterte, Theo lachte. Ich wollte eingreifen. Aufspringen und schreien, dass ich kein Richter sei, keine Urteile spreche, mit der ganzen Sache nichts zu tun habe. Aber mein Mund war so trocken, dass ich keinen Ton herausbrachte, und ich konnte die Beine nicht bewegen.
»Das war dann wohl nichts«, sagte Theo.
Jola weinte. Sie war jetzt gekleidet wie Bella Schweig, die ihrem Ex-Freund von dem Unfall unten auf der Straße berichtete.
»Versuchen Sie es doch woanders.« Theo kritzelte etwas auf ein Kärtchen und reichte es Jola. »Der Tod ist eine Firma, die ständig Leute sucht.«
Meine Hände schnellten vor und packten Theo am Hals. Bevor ich zudrücken konnte, kam Jola näher. Sie befand sich gar nicht wirklich im Raum, sondern bewegte sich auf einem großen Bildschirm. Lächelnd sprach sie in die Kamera.
»Schalten Sie uns nicht aus. Wir schalten Sie aus«, sagte sie.
Mit einem Schrei fuhr ich hoch. Antje wälzte sich herum und blickte mich im Halbdunkel an.
»Geschieht dir recht«, sagte sie, drehte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein.
Am Morgen erwachte ich im Wohnzimmer und brauchte eine Weile, um mich zurechtzufinden. Langsam begriff ich, dass ich mich auf der Couch befand. Antje lag im Schlafzimmer, das Haus war vollkommen ruhig. Das »Geschieht dir recht« hatte ich offensichtlich auch geträumt. Neben mir am Boden entdeckte ich einzelne Seiten von Theos Geschichte. Auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, was ich vor dem Einschlafen gelesen hatte, wusste ich sicher, dass der Traum damit in Zusammenhang stand.
Ich schwang die Beine über den Rand des Sofas und setzte mich auf. Zum ersten Mal seit vier Nächten hatte ich ein paar Stunden am Stück geschlafen. Ich fühlte mich krank. Ich dachte, dass ich nicht wusste, warum und wozu ich am Leben war. Dann stand ich auf und ging in die Küche, um Kaffee zu machen.
14
E rst hatte ich es für Zufall gehalten, dann für Einbildung. Am zehnten Tag meiner Bekanntschaft mit Jola und Theo wurde es zur Gewissheit. Die Leute wechselten die Straßenseite, wenn sie mich sahen. Als wir zwischen den Tauchgängen an der Touristenmeile von Puerto del Carmen ein Eis aßen, passierte es gleich dreimal hintereinander. Erst eine Gruppe von Spanierinnen, die möglicherweise zu Antjes Clique gehörten. Dann ein Ehepaar, das vielleicht eins der Ferienhäuser besaß, die Antje verwaltete. Schließlich zwei ältere Männer, die ich weder mit mir noch mit Antje in Verbindung bringen konnte. Sie alle kamen uns entgegen, blickten mich an und überquerten die Fahrbahn, um auf der anderen Seite weiterzugehen. Jola und Theo schienen nichts zu bemerken.
Wahrscheinlich war meine Paranoia eine Folge von Bernies Anruf. Am Morgen beim Frühstück hatte mein Telefon geklingelt. Es war Montag, in zwei Tagen sollte die große Tauchexpedition mit der Aberdeen stattfinden. Ein paar Fragen waren noch zu klären, aber es stellte sich heraus, dass Bernie aus einem anderen Grund angerufen hatte. Er fragte, wie es mir gehe, in einem Tonfall, der eigentlich für
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