Nullzeit
etwas Schlimmes zugestoßen. Man musste sich nur die Wahrscheinlichkeitsverteilung vor Augen halten. Ein Autounfall war viel unwahrscheinlicher, als das Handy zu verlieren oder das Klingeln nicht zu hören. Selbst bei Antje. Mir fiel auf, dass ich gar nicht gewusst hätte, wen ich nach ihr fragen sollte. Von den meisten ihrer Freundinnen kannte ich nicht einmal den Namen, geschweige denn die Nummer. Mal abgesehen davon, dass Telefonieren auf Spanisch für mich ein Ding der Unmöglichkeit war. Bernie hatte nichts mit ihr zu tun und hätte außerdem sofort zurückgefragt, was zum Teufel bei uns eigentlich los sei. Zu ihren Eltern in Deutschland besaß ich keinen Kontakt. Ohnehin war es erst acht.
Eine seltsame Unruhe trieb mich durchs Haus. Vielleicht war mir auch ein wenig übel. Möglicherweise hatte ich Hunger, konnte mich aber nicht entschließen, etwas zu essen. Theos Geschichte hing wie mit Widerhaken in meinen Gedanken. Selbst der Sonnenuntergang, in dem er seine beiden Figuren zu Anfang spazieren gehen ließ, hatte etwas Unheilvolles: ein Arrangement aus blutigen Wolkenflocken, als wäre am Himmel ein riesiges Wesen explodiert. Die hereinbrechende Dunkelheit ein Deckmantel, das Geschrei der Möwen ein höhnischer Soundtrack. Dass die Frau nicht mit Jola identisch war, begriff selbst ein Literaturbanause wie ich. Sie hieß auch nicht so. Andererseits schien sie manches mit Jola zu teilen. Allem voran eine dunkle Schönheit. Eine gewisse Unberechenbarkeit. Langsam wurde mir klar, warum ich Literatur nicht mochte. Genau wie bei der Rechtswissenschaft handelte es sich um Urteilskunst. Der Autor gebärdete sich als höchster Richter, stellte den Sachverhalt fest, rief Zeugen auf und verkündete am Ende das Urteil. Strafe oder Freispruch. Anders als im Gerichtsprozess gab es nicht einmal die Möglichkeit zur Revision.
Ich lief im Wohnzimmer hin und her, als ob ich etwas suchte. Überall im Haus standen Gegenstände, von denen ich, wären sie mir an einem neutralen Ort gezeigt worden, behauptet hätte, sie noch nie gesehen zu haben. Es wurde Zeit, sich zusammenzureißen.
In der Küche verquirlte ich drei rohe Eier mit Maggi, riss ein großes Stück Weißbrot zum Eintunken ab und trug alles ins Arbeitszimmer. Um mich abzulenken, wollte ich ein oder zwei Folgen von Jolas Serie gucken. Falls es mir gelang, dabei müde zu werden, konnte ich Antjes Abwesenheit nutzen, um mal wieder eine Nacht im Bett zu verbringen.
Der Vollständigkeit halber war ich dazu übergegangen, die Serie ab dem ersten Erscheinen von Bella Schweig in chronologischer Reihenfolge anzuschauen. Ich hatte gerade das AuA-Archiv aufgerufen, mich zu Folge 589 durchgeklickt und den Startbutton gedrückt, als ich ihn sah. Er lag nur wenige Zentimeter neben dem Mousepad, auf den Rücken gedreht, die vier zierlichen Beine mit den High-Tech-Saugnäpfen in der Luft. Wie zu einer Botschaft drapiert. Schau her, der ist tot. Ich sprang auf, wahrscheinlich habe ich geschrien. Emil. Die Kälte seines kleinen Körpers brannte sich in meine Hand. Immer wieder stieß ich ihn mit dem Zeigefinger an, versuchte, ihn zu wärmen, drehte ihn um und setzte ihn an die gewohnte Stelle auf meinem Arm. Er fiel zurück auf den Tisch. Nur noch ein Stück gummiartiger Materie. Im Zimmer, schien mir, roch es irgendwie chemisch, vielleicht nach Insektenspray.
Mitten in meine Überlegung, ob es absurder war, einen Freund ins Klo zu werfen oder ein Reptil zu beerdigen, klingelte es an der Tür. Ohne Todds hysterisches Bellen klangen die Räume dermaßen unmöbliert, dass ich selbst nicht glaubte, zu Hause zu sein. Antje besaß einen Schlüssel und hätte bei der Ankunft mehr Lärm gemacht. Es klingelte wieder. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Da beherrschte jemand das Morsealphabet. Auch ohne diesen Hinweis hätte ich gewusst, wer draußen war.
Als ich die Tür öffnete, stürzte sie mir in die Arme. Flüchtig nahm ich wahr, dass ihr Wimperntusche über das Gesicht lief. Am Nachmittag war sie nicht geschminkt gewesen. Ihre Schultern zuckten. Sie klammerte sich an mir fest. Ihr ganzer Körper wurde vom Schluchzen geschüttelt. Ich hielt sie im Arm und vergrub die Nase in ihrem Haar. Wir hatten nicht einmal Hallo gesagt. Während ich ihren Geruch einatmete, spürte ich, wie mir alles gleichgültig wurde. Zitterrochen, Antje, Theos Geschichte, der Gecko. Ich musste nicht mehr nachdenken und nichts mehr wollen. Was sie unter Tränen erzählte, verstand ich kaum.
Theo und sie
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