Nullzeit
waren im Sonnenuntergang auf der Promenade spazieren gegangen. Plötzlich hatten sie weit draußen einen Schwimmer entdeckt, der gegen die Strömung kämpfte. Im ersten Impuls wäre Jola ins Wasser gesprungen, wenn Theo sie nicht zurückgehalten hätte. Lange waren sie ziellos hin und her gelaufen, bis sie jemanden von der Strandwache fanden. Inzwischen hatte sich auf der Promenade längst ein Menschenauflauf gebildet, ein Boot der Küstenpolizei war unterwegs, und von einer der anderen Inseln kam ein Hubschrauber herüber. Von dem Schwimmer hatte man nur noch die Leiche geborgen. Flüchtig dachte ich an Bella Schweig, die heulend bei ihrem Ex-Freund auftauchte, um von einem überfahrenen Radfahrer zu berichten.
Während ich Jolas Haare streichelte, erzählte ich, dass auf der Insel häufig Touristen starben. Sie ertranken, stürzten vom Fahrrad, knallten beim Paragliding gegen einen Felsen oder kamen betrunken von der Straße ab. Eine ganze Rettungsindustrie beschäftigte sich mit Leuten, die ihren Freizeitaktivitäten zum Opfer fielen. Es gab Hubschrauber, Boote, Krankenhäuser …
Wahrscheinlich hatte ich längst aufgehört zu reden, falls ich überhaupt etwas gesagt hatte. Ich fand mich auf der Couch im Wohnzimmer wieder, mit Jola auf meinem Schoß. Ihre Haare bildeten einen schwarzen Vorhang, hinter dem wir uns küssten. Ruhe breitete sich in mir aus. Als wäre ich endlich angekommen. Die Anspannung der vergangenen Tage fiel von mir ab. Da war kein Kampf mehr, kein Zweifel, keine Verwirrung. Meine Hände fühlten sich bei Jola vollkommen zu Hause. Nichts an ihr schien mir fremd. Das Zimmer drehte sich um uns herum, das Haus, die Insel, die ganze Welt. Das Universum hatte sein Zentrum gefunden, um das es sich ausdehnte und in dem es eines Tages zusammenstürzen würde.
Bis Antje im Raum stand. Ich hatte weder ihr Auto noch den Schlüssel gehört. Todd knurrte Jola an. Es gelang mir nicht, zu reagieren. Ich saß einfach da und blinzelte. Als hätte Antjes Erscheinen ein grelles Licht eingeschaltet, das uns gnadenlos ausleuchtete. Ein Tauchlehrer mit halbnackter Kundin auf dem Schoß, in flagranti von der Lebensgefährtin ertappt.
»Okay«, sagte Antje. »So können wir es auch handhaben.«
Pflichtschuldig sprang Jola von meinen Knien, gewann Abstand, brachte mit gesenktem Blick ihre Kleider in Ordnung. Ich verspürte schon keine Lust mehr auf die Szene, bevor sie richtig begonnen hatte. Kaum dass ich Jola nicht mehr berührte und roch, sah sie wieder aus wie Bella Schweig. Wie sie zu Boden blickte, das Gesicht unter den Haaren verbergend, und immer wieder über ihr T-Shirt strich. Vielleicht war es der Fluch von Schauspielern, dass sie nicht aufhören konnten, sich selbst zu spielen.
Drei Meter weiter stand Antje und war unweigerlich mit sich selbst identisch. Sie bebte. Ich fühlte Ungeduld. Wo warst du so lange, ich muss dringend mit dir reden, ich wollte dich ein paar Sachen fragen. Können wir bitte diesen Quatsch hier beenden und zu Abend essen. Ein Glas Wein, das warme Licht der Lampe über dem Tisch. Zur aktuellen Lage gab es nichts zu sagen. Ich hatte mich ein weiteres Mal von Hirngespinsten überrumpeln lassen. Jola war eine Meisterin ihres Fachs. Nun wäre ich gern zur Tagesordnung zurückgekehrt, auch wenn ich natürlich wusste, dass das nicht ohne Weiteres möglich war. Weil es dringend notwendig wurde, dass jemand sprach, stellte ich die einzige Frage, die mich interessierte:
»Warum hast du Emil umgebracht?«
Das wirkte, als hätte ich einen Schalter umgelegt, der eine andere, mir bislang unbekannte Antje aktivierte. Sie schrie nicht einmal. Eigentlich sprach sie sogar ziemlich leise, legte dabei aber eine Schärfe in ihre Stimme, die durchdringender war als jede Lautstärke.
»Eigentlich wollte ich die Sache auf sich beruhen lassen. Das hier«, sie führte eine Armbewegung aus, die mich, das Haus und sie selbst einschloss, »ist mir wichtiger als deine kindische Affäre. Aber demütigen lasse ich mich nicht. Dass du deine Geliebte jetzt schon hierher bringst, ist eine Unverschämtheit.«
»Jola ist nicht meine Geliebte«, sagte ich.
Die Schärfe wandelte sich in Hass.
»Vielleicht«, sagte Antje, »habe ich es dir in den letzten Jahren zu leicht gemacht. Ich habe zugelassen, dass du dich immer weiter in deine eigene Welt zurückziehst und jeden Sinn für die Realität verlierst. Am Ende ist wahrscheinlich alles meine Schuld.«
Ihre Ansprache ging mir ernsthaft auf die Nerven. Das war
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