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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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nicht die Antje, die ich kannte. Sie klang nicht wie das Mädchen, das mit dem ersten Todd am Boden meines Jugendzimmers gelegen und Gummibärchen gegessen hatte. Sie klang wie eine Staatsanwältin. Außerdem wusste ich jetzt, dass sie Emil auf dem Gewissen hatte. Für eine Täterin war es typisch, die entscheidende Frage nicht zu beantworten und stattdessen mit Schuldzuweisungen zu reagieren. Ich hatte keine Lust, die Sache auszudiskutieren. Ich wollte auch nicht mehr zu Abend essen. Ich wollte nur noch ins Bett, die Decke über den Kopf ziehen und zwanzig Stunden schlafen. Danach sollte alles normal sein. Normalität war doch das Mindeste, was man vom Leben verlangen konnte. Aber Antje war noch nicht fertig. Sie sah mich nachdenklich an, zögerte, als müsste sie eine Entscheidung treffen. Dann kam es.
    »Machen wir reinen Tisch«, sagte Antje. »Ich habe auch einen Liebhaber. Er heißt Ricardo. Wir kennen uns seit einem Jahr.«
    Entgeistert starrte ich sie an.
    »Gleichstand«, sagte sie und lächelte schmerzlich. »Vielleicht die einzige Chance auf einen Neuanfang.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und holte tief Luft. »Ich liebe dich, Sven. Anders als du habe ich kein Problem damit, es zu sagen. Das mit Ricardo ist rein sexuell. Du bist halt eher ein sporadischer Liebhaber. Für eine junge Frau wie mich spielt Sex eine große Rolle.«
    Als sie näher kam und die Hand ausstreckte, wich ich ihr aus.
    »Keine Angst«, sagte sie. »Ich habe immer darauf geachtet, dich zu schützen. Niemand weiß davon. Schließlich sind wir in Spanien. Nur Valentina und Luisa sind eingeweiht, weil ich manchmal Hilfe bei der Logistik brauchte.«
    Ich kannte keinen Ricardo. Ich war überzeugt, dass sie log, und genau das tat weh. Mich verletzte ihr Wille, mich zu verletzen. Sie legte es so verzweifelt darauf an, dass sie sich nicht einmal für eine abwegige Geschichte zu schade war, die uns beide beleidigte.
    »Ich würde vorschlagen, dass du jetzt gehst«, sagte ich.
    Sie begann stumm zu weinen, dabei nickte sie. Während sie im Schlafzimmer ein paar Sachen in eine Tasche stopfte, fiel mir auf, dass Jola nicht mehr da war. Sie musste sich während Antjes Vortrag in Luft aufgelöst haben. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern, wann sie gegangen war.
    Antje kam zurück. Sie blieb mitten im Zimmer stehen, unschlüssig, wie der Abschied zu gestalten sei. Gern wäre ich aufgestanden, hätte sie in den Arm genommen, ein paar nette Worte gesagt. Aber ich saß auf der Couch, mit leerem Kopf und schweren Beinen, unfähig, mich zu bewegen. Irgendwann drehte sich Antje um und ging. Ich hörte Todds Pfoten auf den Fliesen im Flur. Ich hörte die Haustür zufallen und den Citroën starten. Das Motorengeräusch entfernte sich. Die anschließende Stille war anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Weniger erholsam.

Jolas Tagebuch, elfter Tag.
    Dienstag, 22. November. Morgens.
    Das Leben kann seltsam sein. Im einen Augenblick der nackte Alptraum. Im nächsten wunderschön. Wie Papa zu sagen pflegte: Kind, vergiss niemals, dass du ein Mädchen bist. Wenn’s dir dreckig geht, sind das die Hormone. Oder Mama: Frag nicht, wie’s dir geht, sondern wie du dabei aussiehst. Oder Theo: Dir geht’s doch nur mies, damit ich ein schlechtes Gewissen bekomme.
    Sven sagte: Das Schwein bring ich um. Und davor: Alles wird gut. Er sah aus, als meinte er beides ernst.
    Sven als Mörder – unvorstellbar. Wobei ich mir inzwischen eigentlich alles vorstellen kann. Ich muss ja nur auf der Promenade spazieren gehen, schon stirbt einer. Ein kleiner Fleck draußen im Meer. Abartig, was einem in solchen Augenblicken in den Sinn kommt. Als ich ins Wasser will, denke ich nur daran, was für eine gute Schwimmerin ich bin und dass ich es schaffen kann. Dass so eine Heldentat auch in Deutschland für Berichterstattung sorgen wird. Dass man am Ende gar nicht anders können wird, als mir die Rolle der Lotte zu geben. Ich sehe es schon vor mir: Wie ich in meiner Wohnung sitze, mit einer Kerze und Musik, im Regal der Silberne Bär der Berlinale. Das Handy ausgeschaltet, weil ich mir den Luxus leisten kann, unerreichbar zu sein. Ich trinke Wein und lese eins der Drehbücher, die sich auf meinem Schreibtisch stapeln.
    Aber der alte Mann hat mich zurückgehalten. Während wir nach einem Lifeguard suchten, dachte er wahrscheinlich daran, dass sich die Szene gut für eine Geschichte verwenden ließe. Zwei verzweifelte Touristen rennen den Strand entlang,

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