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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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zu nehmende Schauspielerin wirst? Sondern nur eine alternde Nutte des Fernsehgeschäfts, an die sich in ein paar Jahren kein Mensch mehr erinnern kann?«
    Jola verlor. Gegen Theo, gegen die Runde, vor allem gegen sich selbst. Ihrer Kehle entfuhr ein Röcheln. Sie sprang auf, rannte aus dem Salon und die steile Treppe hinauf. Ich wollte ihr nach, hatte mich schon halb erhoben, als mein Blick auf Theo fiel. Er unterbrach sein Gelächter, um mit hochgezogenen Brauen den Kopf zu schütteln. Das hieß: »Lass.« Er kannte sie besser als ich. Ich sank auf meinen Stuhl zurück. Er sah mich weiter an, während sein Brustbein schon wieder vor Lachen hüpfte. Na, wie war das?, schien sein Blick zu fragen. Da konntest du deiner neuen Freundin wohl gar nicht helfen? Verdammter Anfänger.
    Mitten im allgemeinen Schweigen drehte der Afrikaner den Kopf von einer Seite zur anderen.
    »What is?«, fragte er.
    »Das tut mir jetzt leid«, sagte Bittmann nach längerer Pause.
    »Sie wird drüber wegkommen«, meinte Jankowski.
    »Das glaube ich nicht«, sagte Theo.
    »Nachtisch?«, fragte Bittmann.
    Gekochte Vanillesahne mit Pistazien und Rotweingelee.
    Als der Dessertteller vor mir stand, hielt ich es nicht mehr aus. Ich murmelte eine Entschuldigung und verließ den Tisch. Bevor ich das Hauptdeck erreichte, klingelte mein Telefon. Ich dachte, es müsse Jola sein, und nahm das Gespräch entgegen. Es war Bernie. Er sprach Englisch und das ziemlich schnell. An meinem rechten Ohr zog ein unverständlicher Sprachstrom vorbei, auf dem hin und wieder etwas Fassbares trieb. Einzelne Wörter. »Fuck«. »Dave«. »Aberdeen«. Zweimal verstand ich »crazy«.
    »Bernie«, sagte ich. »What’s the matter?«
    »You can have the fucking boat. But don’t ever ask me again.«
    »Pardon?«
    »Aren’t you listening, man? You can take the Aberdeen tomorrow morning. But forget about us! Dave – is – not – coming – and – neither – am – I, understand? It’s the last thing I’ll do for you. You’ve lost your fucking mind.«
    »But, Bernie, why won’t …«
    Das Gespräch war unterbrochen, Bernie hatte aufgelegt. Ich versuchte zurückzurufen, aber er ging nicht mehr dran. Ich war die letzten Stufen zum Deck hinaufgestiegen, stand neben dem Mast und starrte ins Leere. Vor dieser Leere befand sich ein Stück Reling, an dem Jola lehnte und mich anblickte. Sie hielt ebenfalls ein Telefon in der Hand, dessen erleuchtetes Display sie mir entgegenstreckte. Für einen Augenblick bildete ich mir ein, Bernie hätte auch sie angerufen, um die Expedition abzublasen.
    »SMS von meinem Vater«, sagte Jola. »Bittmann hat recht. Die Stadler kriegt die Rolle.«
    Das war’s, dachte ich. Wochenlange Vorbereitungen umsonst. Für Dave und Bernie würde ich so schnell keinen Ersatz finden. Und mit dem Dezember kamen die Winterströmungen, die es unmöglich machten, das Wrack zu erreichen. Mit einem Schlag war das ganze Projekt gestorben. In eine Zukunft vertagt, von der ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass sie stattfinden würde. Ich wusste ja nicht einmal, was die kommenden Tage bringen sollten. Die nächste Woche. Ich fühlte, wie sich mein Leben in seine Bestandteile auflöste. Monatelang hatte ich mir vorgestellt, meinen vierzigsten Geburtstag, meinen persönlichen Abschied von der ersten Hälfte des Lebens, in hundert Metern Tiefe zu feiern. Darauf verzichten zu müssen, bedeutete, dass alles ins Wanken geraten war. Ich wusste nicht einmal, warum Bernie so kurzfristig abgesagt hatte. Ich wusste nur, dass ich mich auf nichts mehr verlassen konnte.
    Jola hatte das Handy weggesteckt. Nebeneinander lehnten wir an der Reling und sahen auf die Mole hinaus, die den unteren Saum des Nachthimmels bildete. Ein kalter Wind fasste uns von allen Seiten an. Ich wollte Jola mein Sakko um die Schultern legen und stellte fest, dass ich keins trug; ich musste es irgendwann im Lauf des Abends ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt haben. Alles kam mir unwirklich vor. Die Dorset war kein normales Schiff. Sie war ein fahrendes Stück Deutschland. Und so fühlte ich mich: deutsch. Überfordert, desorientiert, angewidert von der Welt.
    »Was hast du?«, fragte Jola.
    Ich erzählte ihr von Bernies Anruf, und sie lachte bitter.
    »Da hat man uns wohl beiden den Boden unter den Füßen weggezogen. Mir vielleicht ein bisschen mehr als dir. Wobei ich da nicht einmal sicher bin.«
    Es gab nicht viele Menschen, die das Elend anderer neben dem eigenen

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