Nullzeit
absurder Gedanke. Aber genauso wenig wusste ich, wie ich ein neues Leben beginnen sollte. Ich war nicht mehr am Ende, ich war darüber hinaus.
Als ich Schritte auf der Treppe hörte, dachte ich schon, Theo wäre gekommen, um sich zu entschuldigen. Mit anderen Worten: um den verursachten Schaden aus der Nähe zu begutachten. Aber es war Sven. Mein erster Impuls war, ihn wegzuschicken. Was ich am wenigsten brauchte, waren unbeholfene Trostversuche. Aber Sven quasselte schon, bevor er das Deck erreicht hatte. Kam auf mich zu, starrte mir auf die Stirn und redete. Legte die Hände auf meine Schultern, schüttelte mich und redete. Irgendwann kapierte ich, dass er gar nicht versuchte, mich zu trösten. Nicht mal im Ansatz. Es ging überhaupt nicht um mich. Es ging um seine Tauchexpedition. Die sagenhafte Wrackerkundung. Seine private Geburtstagsfeier in hundert Metern Tiefe. Die nicht stattfinden konnte, weil Bernie und Dave ihm aus irgendeinem Grund, den er nicht begriff, plötzlich abgesagt hatten. Der größte anzunehmende Unfall. Er fragte, ob ich ihn bei der Expedition unterstützen könne. Ihm die Mannschaft ersetzen. Gemeinsam mit dem alten Mann. Ausgerechnet!
Vor lauter Verblüffung gab ich sinnvolle Antworten. Dass ich das für keine gute Idee hielte. Dass weder Theo noch ich die nötige Erfahrung besäßen. Dass er den Tauchgang besser verschieben solle.
Aber Verschieben kam nicht in Frage. Der Winter, die Strömung, der Wind. Die ganze Planung. Und sein Geburtstag. Wochen und Monate habe er auf diesen einen Tag hin gearbeitet. Soundsoviel Geld investiert. Und ich hätte doch schon Schiffe gesteuert, bevor ich laufen konnte. Ich sagte ihm, was er selbst am besten wusste: Dass sich das Wrack einige Kilometer vor der Küste befinde und sein Leben bei diesem Projekt in den Händen der Bootsbesatzung liege. Aber er gab nicht auf. Er vertraue mir mehr als den beiden schottischen Arschlöchern, die ihn soeben versetzt hätten. Ob ich ihn jetzt auch hängen lassen wolle? Und noch mal von vorn: die Planung, die Strömung, sein Geburtstag. Morgen früh oder nie. Es musste sein. Unbedingt. Er flehte mich an. Bitte, bitte, bitte. Wie ein kleiner Junge. Leuchtende Augen, rote Wangen.
Während er redete wie ein Wasserfall, fragte ich mich, ob er nicht verstand, was eben am Tisch vorgefallen war. Oder ob es ihn einfach nicht interessierte. Ob ein Mensch tatsächlich so egozentrisch sein kann, dass er einen geplatzten Tauchgang wichtiger findet als die seelische Totalvernichtung der Frau, die er angeblich liebt. Ich sagte nichts mehr und hörte zu. Staunte über ein solches Maß an Verbohrtheit. Als handelte es sich um eine Naturgewalt.
Bis die Erkenntnis einsickerte, was er da machte. Und das war so schlau, so einfühlsam, so rührend richtig gedacht, dass mir fast die Tränen kamen. Er wollte die Expedition nicht für sich selbst. Er wollte sie für mich. Er hatte sofort kapiert, dass es nichts brachte, über Lotte oder Theo zu sprechen. Oder darüber, dass mein Scheißleben in Scheißtrümmern lag. Er wollte mich ablenken. Mir die Möglichkeit geben, mich auf das Eigentliche zu konzentrieren. Auf Wasser, Wind und Schiff. Etwas, das er versteht und von dem er weiß, dass es gut tut. Er wollte, dass ich kämpfe. Dass ich diejenige bin, die gebraucht wird und helfen muss. Er selbst hatte Bernie abgesagt. Ihm eine SMS geschickt und erklärt, dass er nur die Aberdeen benötige. Ohne Besatzung. Weil er mit mir fahren will. Um mich daran zu erinnern, was ich wirklich kann und viel zu selten mache: ein Schiff auf Kurs halten.
Mit einem Mal roch ich das Meer und spürte die leichten Bewegungen der Dorset. Ich lebte wieder. Mit allen Schmerzen. Aber auch mit Freude. Ich lebte Sven entgegen. Auf ihn zu. Als wäre Liebe eine Richtung. Ich nahm ihn in den Arm. Schlagartig versiegte der Redestrom. Ich sagte, dass ich mitkäme und dass es eine tolle Expedition werden würde.
Er sagte: Theo brauche ich auch. Ich sagte: Dann wird Theo mitfahren. Er sagte: Theo ist wichtig. Ohne Theo geht es nicht. Ich sagte: Keine Sorge. Er kommt. Er fragte: Kannst du das versprechen? Ich versprach es. Sven ließ mich das Versprechen wiederholen. Wir beide, Theo und ich. Morgen früh um sechs vor der Casa Raya. Zum Abmarsch bereit. Sven betonte jedes einzelne Wort. Als ginge es um einen Banküberfall. Ich küsste ihn. Er streichelte meinen Kopf. Ich hatte keine Lust mehr, an die Zukunft zu denken. Nicht mal an Samstag. Nur noch an jetzt und an morgen.
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