Nullzeit
Fahrzeug übers Brückengeländer gezogen und vorsichtig abgesetzt wurde. Jetzt erlebte Wohl den zweiten Schock. Vom Leoparden keine Spur. Das Mädchen war aber noch da. Sie saß auf dem Beifahrersitz, ihre Haare klebten am Kopf. Es war eine attraktive junge Frau von etwa zwanzig Jahren. Nach einigen Tagen konnte Wohl sie anhand der Fingerabdruck-Karteien der Vichy-Polizei als Lucie Devaud identifizieren. Der Stabsarzt, der die Leiche untersucht hatte, sagte zu dem Abwehroffizier, daß sie vor kurzem von einem Kind entbunden worden sei.
Dieser Zwischenfall löste bei der Résistance einen kleinen Skandal aus. Es gab zwei entgegengesetzte Ansichten über die Angelegenheit. Einige sagten, der Leopard habe korrekt gehandelt; er habe alles geopfert, um rechtzeitig zu seiner wichtigen Verabredung zu erscheinen. Andere dachten nicht so großzügig - Lucie Devaud hatte als Kurier beachtliche Dienste geleistet und meinten, er hätte das Mädchen auch mitnehmen können, wenn ihm nicht so sehr daran gelegen hätte, seine eigene kostbare Haut zu retten.
Die Kriegswirren und der spätere Versuch, im Süden Frankreichs eine kommunistische Republik zu gründen, ließen den Zwischenfall bald in Vergessenheit geraten, zumal als bekannt wurde, daß der Leopard in Lyon auf offener Straße erschossen wurde …
An all das erinnerte sich Dieter Wohl, als er in der Zeitung den Namen der Frau las, die versucht hatte, Guy Florian zu töten. Unterdessen hatte Wohl begonnen, seine Memoiren niederzuschreiben. Dies war eine zu gute Gelegenheit, die nicht ungenutzt bleiben durfte - er mußte andere dazu bringen, ihm zu schreiben. Wer etwas über die damaligen Ereignisse wußte, konnte ihm nützliches Material für sein Buch liefern. Am Freitag, dem 10. Dezember, schrieb er einen Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Er bezog sich auf die Attentatsmeldung und wies darauf hin, daß er im Krieg Tagebuch geführt habe und jetzt seine Memoiren schreibe. Um seinem Schreiben Autorität zu geben, erwähnte er den Namen einer gewissen Annette Devaud, die ebenfalls ein Mitglied der Résistance-Gruppe des Leoparden gewesen sei. Wohl nannte sogar ihre letzte Adresse von vor mehr als dreißig Jahren. Um seinen Brief noch spannender zu machen, zitierte er einen Satz aus einer der letzten provozierenden Rundfunksendungen Oberst Lasalles. »Wer ist diese Lucie Devaud, die gestern nacht versucht hat, einen bestimmten europäischen Staatsmann zu töten?« Am Ende seines Briefes fügte Wohl eine eigene Frage hinzu. Ich frage mich, ob Annette Devaud noch immer in Saverne lebt?
Wohl hatte schneller Erfolg, als er hätte hoffen können. Die Frankfurter Allgemeine druckte den Brief am Dienstag, dem 14. Dezember, ab und wurde noch am selben Tag pflichtgemäß von Paul-Henri Le Theule gelesen, dem der französischen Botschaft in Bonn beigeordneten Geheimdienstoffizier. Le Theule war achtunddreißig Jahre alt und bei Kriegsende noch ein Kind gewesen. Er wußte nichts über den Leoparden, aber der kurze Hinweis auf Oberst René Lasalle sprang ihm sofort ins Auge. Da er dringend Material brauchte, um seinen nächsten Bericht nach Paris ein wenig aufzufüllen, schnitt er den Leserbrief aus und legte ihn in die schmale Akte, die mit der nächsten Diplomatenpost nach Paris gehen sollte.
Die versiegelte Kuriertasche mit der Diplomatenpost wurde am Samstag, dem 18. Dezember, in Paris angeliefert. Roger Danchin, der sich durch Berge von Papier hindurcharbeitete, bekam den Zeitungsausschnitt jedoch erst am Sonntagmorgen zu Gesicht. Er zeigte ihn Alain Blanc, der zufällig bei ihm war. Danchin diktierte eine Aktennotiz an den Staatspräsidenten, die er zusammen mit dem Zeitungsausschnitt über die Straße in den Elysée-Palast bringen ließ. Zur Lunchzeit hatte Guy Florian beide Dokumente gelesen. Um drei Uhr nachmittags kam der sowjetische Botschafter Leonid Vorin, der mit Alain Blanc geluncht hatte, in den Elysée-Palast. Er sprach kurz mit dem Präsidenten und eilte dann zurück in seine Botschaft in der Rue de Grenelle.
Nachdem er am Samstag um neunzehn Uhr mit dem Triebwagen aus Straßburg nach Colmar zurückgekehrt war, eilte Lansky über den Bahnhofsvorplatz zum Hotel Bristol, wo seine beiden Kollegen ihn bereits in Vaneks Zimmer voller Ungeduld erwarteten. Er erzählte ihnen, auf welche Weise er sich Noëlle Bergers entledigt hatte. Vanek zeigte sich erleichtert. »Das bedeutet, daß Philip jetzt allein im Haus ist. Wir können das
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