Nullzeit
den Lucie Devaud geschrieben und den sie bei Max Rosenthal, ihrem Anwalt, hinterlegt hatte, wurde dem Polizeipräfekten von Paris nicht ausgehändigt. Rosenthal war ein Mann mit extravaganten Gewohnheiten. Er verspielte zwar große Summen, war aber nicht bereit, seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Als er davon erfuhr, daß seine Klientin versucht hatte, den Präsidenten zu töten, bekam er Angst, die Übergabe des Päckchens könnte ihn in irgend etwas hineinziehen. Lucie war immer persönlich in seiner Kanzlei erschienen und hatte ihm nur mündlich Anweisungen erteilt; es gab keinen Schriftwechsel zwischen ihnen; und seine Honorare hatte sie immer in bar beglichen - und er hatte die Beträge dem Finanzamt verschwiegen. Rosenthal baute darauf, daß man seine Verbindung zu Lucie Devaud nicht würde entdecken können, und verschloß das Päckchen in einer Kassette; dort blieb es, bis er ein Jahr später unvermutet starb.
Bevor Lucie Devaud als verhinderte Attentäterin starb, hatte sie ihrer blinden Großmutter einen großen Dienst erwiesen: Sie hatte ihr geraten, einen Augenspezialisten aufzusuchen. Vielleicht sei die medizinische Forschung inzwischen viel weiter fortgeschritten, oder vielleicht sei das Trauma, das die Erblindung ausgelöst habe, nicht mehr wirksam, hatte Lucie gesagt. Annette Devaud unterzog sich im September - drei Monate vor Guy Florians Abflug in die Sowjetunion - mehreren Operationen und erlangte ihre Sehkraft vollständig zurück. Nach dem Klinikaufenthalt kehrte sie sofort auf den Holzfällerhof zurück und begann, begierig zu lesen und zu zeichnen. Sie nahm ihr altes zurückgezogenes Leben wieder auf, war aber jetzt wieder mit gesunden Augen gesegnet. Als der Mann, der ihr immer die Lebensmittel brachte, ihr die Nachricht vom Tod ihrer Enkelin überbrachte, weigerte sie sich, die näheren Umstände von Lucies Tod als Tatsachen anzuerkennen. »Das ist alles ein schrecklicher Irrtum gewesen«, behauptete sie fest. »Sie müssen sie mit jemandem verwechselt haben.« Dies war die alte Frau, zu der das sowjetische Kommando unterwegs war, um sie zu töten.
16
Vanek ignorierte den Wolkenbruch und fuhr mit hoher Geschwindigkeit über die fast leere Straße von Straßburg Richtung Saverne. Neben ihm saß Lansky, der schweigend die Sandwiches aß, die sie am Straßburger Flughafen gekauft hatten, und trank aus einer Flasche Rotwein. Einmal wies er Vanek darauf hin, daß er schneller als erlaubt fahre. »Essen Sie nur weiter«, sagte der Tscheche zu ihm. »Wir haben nur noch einen Besuch zu machen, bevor wir nach Hause fahren. Und die Zeit bleibt nicht ewig auf unserer Seite. Wenn wir ein bißchen Glück haben, stellt sich vielleicht sogar heraus, daß diese Devaud schon vor Jahren gestorben ist«, fügte er hinzu.
Vanek reduzierte unmerklich die Geschwindigkeit - weil er wußte, daß Lansky recht hatte. Lansky beobachtete das, sah auf den Tacho und lächelte fein, während er den letzten Bissen aß. Brunner hatte zwischen beiden eine Art Pufferfunktion gehabt. Vanek und Lansky waren beide Egozentriker. Lansky war intelligent genug, keine weiteren provokanten Kommentare zu machen. Sie hatten einen schwierigen Job vor sich.
»Wir werden so bald wie möglich prüfen müssen, ob die Adresse der Devaud noch stimmt«, bemerkte Vanek und überholte einen Gemüselaster, dessen Reifen einen Wasservorhang aufsprühten. »Halten Sie Ausschau nach einem Hotel oder einem Lokal. Wenn sie noch am Leben ist und im selben Haus wohnt, müssen die Leute aus der Gegend das wissen. In der Provinz in Frankreich kann man nicht mal hinter einer Mauer stehen und pinkeln, ohne daß das ganze Dorf zusieht …«
»Diesmal«, schlug Lansky vor, »sollten wir uns nicht damit abquälen, das Ganze wie einen Unfall aussehen zu lassen, sondern die Sache hinter uns bringen und verschwinden. Wir haben jetzt ja nicht mehr dieses alte Waschweib Brunner am Hals …«
»Das werde ich entscheiden, wenn der Augenblick da ist«, bellte Vanek. Am anderen Ende der Ebene sahen sie kilometerlang keine Spur irgendwelcher Häuser. Sie waren schon recht nah an Saverne herangekommen, als Vanek durch die Windschutzscheibe blinzelte und das Schild sah: Auberge des Vosges und Tankstelle - 500 Meter. Er bremste. »Hier sollte es ein Telefonbuch geben«, sagte er, »und wir sind jetzt schon in der richtigen Gegend.« Er verließ die Landstraße und hielt vor den Zapfsäulen.
»Volltanken, bitte«, sagte er dem Tankwart. »Wir gehen
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