Nullzeit
Peter Lanz’ Theorie akzeptiert hatte, nämlich, daß die Überlebenden des Killerkommandos schnellstens in die Sowjetunion flüchten würden. Das war eine annehmbare Theorie gewesen - vor ein paar Tagen jedenfalls noch -, weil jetzt der dritte Zeuge auf Lasalles Liste soeben umgebracht worden war. Aus welchem Grund hätte das Kommando sich noch länger hier herumtreiben sollen? Lennox ging ins Hotel zurück, so daß man ihn von der Bar aus nicht sehen konnte, und tat, als verließ er das Hotel durch den Vordereingang; anschließend lief er eine Treppe hinauf, die sich zweimal wand, bevor er das nächste Stockwerk erreichte. Dort oben wartete er und blickte durch ein Fenster auf die Straße.
Als Lansky wieder in der Bar erschien, war der Barmann hinter einem Vorhang verschwunden. Vanek lehnte an der Theke. Lansky nahm seinen Drink und leerte das Glas in einem Zug, während Vanek mit dem Glas in der Hand spielte. »Dieser Franzose, den ich aus dem Haus Nr. 49 habe kommen sehen - Jouvels Haus -, der Bursche, mit dem ich zusammengestoßen bin, befindet sich hier im Waschraum«, sagte er mit leiser Stimme. »Das ist kein Zufall …«
»Sind Sie sicher? Beschreiben Sie ihn«, sagte Vanek wie beiläufig.
Lansky gab mit wenigen Worten eine Personenbeschreibung von Lennox.
»Ich bin ziemlich sicher«, fuhr er fort. »Ich bin darauf trainiert, mir solche Dinge zu merken - falls Sie es vergessen haben sollten. Wir haben uns kurz im Spiegel angesehen, und wir wußten beide Bescheid. Ich hätte ihn erledigen können - der Raum war sonst leer -, aber das hätte die Polizei auf den Plan gerufen, und das können wir im Augenblick nicht gebrauchen, nicht wahr?«
»Nein, wirklich nicht. Übrigens, er sieht jetzt gerade in die Bar, also drehen Sie sich nicht um …«
Die Situation überraschte Vanek überhaupt nicht; früher oder später mußte einfach etwas schiefgehen - auch in Freiburg war es so gekommen -, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Die Frage war nur, wie man mit der Lage zurechtkam, wozu man sich entschloß.
»Er ist gegangen«, sagte Vanek. »Ich denke, wir sollten auch von hier verschwinden.«
Als sie durch die Vordertür hinaustraten, fuhr gerade ein Peugeot 504, in dem nur ein Mann saß, in Richtung Saverne davon. Der Wagen war soeben aufgetankt worden. Im Regen war nicht zu erkennen, wie der Mann am Lenkrad aussah. »Das wird er sein«, sagte Vanek. Aus dem Fenster im ersten Stock sah Lennox die beiden davonfahren, in Richtung Saverne. Er ging die Treppe hinunter und betrat die Bar, in der der Barmann Gläser polierte. Lennox bestellte sich noch einen Cognac und ließ die Frage so beiläufig wie nur möglich klingen. »Diese beiden Männer, die nach mir hereingekommen sind - ich glaube, ich habe einen von ihnen wiedererkannt. Oder sind es Leute aus der Gegend?«
»Hab’ die noch nie gesehen - und möchte sie auch nicht wiedersehen. Der Lange hat irgend so was gesagt, sie hätten mit Marktforschung zu tun. Sie suchen sich die Namen bestimmter Leute raus, und dann marschieren sie los und stellen ihnen dämliche Fragen. Ich glaube, die sind unterwegs zu Annette Devaud …«
»Tatsächlich?«
»Hat irgendwas mit einer Kampagne für eine Rentenerhöhung zu tun«, erklärte der Barmann.
»Sie wollten wissen, ob ihr Mann noch lebt. Wie sie zum Holzfällerhof kämen. Ich hab’s ihnen nur gesagt - und nicht so aufgezeichnet wie für Sie.« Der Barmann lächelte säuerlich. »Und ich hab’ ihnen auch nicht gesagt, daß Annette sie mit einem Schießprügel vom Hof jagen wird, der es in sich hat …«
Lennox trank schnell seinen Drink aus und ging nach draußen, wo der Mercedes für ihn bereitstand. Es regnete jetzt - falls das überhaupt möglich war - noch heftiger, und als er losfuhr, sah er, daß dicker Nebel und Regenwolken die Vogesen einhüllten. Als das Kommando in Freiburg Dieter Wohl getötet hatte, war es neblig gewesen, und jetzt lag Nebel über den Vogesen. Die Gedankenassoziation machte Lennox zu schaffen, während er aufs Gaspedal trat und die Geschwindigkeitsbeschränkungen mißachtete, um den Renault einzuholen.
Karel Vanek war ein schneller Fahrer, aber Alan Lennox fuhr waghalsiger. Ohne Rücksicht auf Streifenwagen - und das miserable Wetter - fuhr der Engländer mit mehr als hundertzehn Stundenkilometern. Er holte den Tschechen kurz hinter Saverne ein, dort, wo die Straße beginnt, sich in die Berge hinaufzuwinden. Einen kurzen Moment lang durchbrach die Sonne die Wolkendecke
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