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Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Titel: Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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zum Heim hinaus. Die Landschaft in Kent war juligrün. Als wir durch die Alleen fuhren, fiel das Licht in Tupfen durchs Blätterdach. Die Hecken waren eine duftende Mischung aus Geißblatt und wilden Rosen. Doch die Schönheit dieses Nachmittags machte uns die Fahrt ins Heim nicht leichter. Mein Vater hielt an, um eine stämmige Frau hoch zu Ross über die Straße zu lassen. Sie nickte uns freundlich zu, die kastanienfarbenen Flanken ihrer kleinen Stute leuchteten im Abendlicht wie der Kricketschläger meines Vaters, wenn er ihn geölt hatte. Ich dachte an die dicken Ponys, die ich als Kind geritten hatte. Dabei hatte meine Mutter mit aufgestützten Armen am Zaun gelehnt und mir stolz zugesehen. Hinterher hatten wir auf der Bank neben der Koppel miteinander Limonade getrunken.
    Ich dachte, sie würde immer für mich da sein.
    Warum hätte ich mir auch etwas anderes denken sollen?
    Niemand hatte mir erklärt, wie krank meine Mutter wirklich war. Vielleicht hatte es ja auch niemand bemerkt. Gar besuchte Freunde in Cornwall. Sie bekam gar nicht mit, wie unser Leben ein für alle Mal in die Brüche ging. Und mein Vater, mein armer Vater, war so verloren, jetzt, wo man meine Mutter an diesen merkwürdigen Ort gebracht hatte.
    Als ich in ihr Zimmer kam, war mir schon ganz elend, weil sie kaum lächelte, obwohl sie es immerhin versuchte. Ich aber, ich konnte nicht ertragen, mit anzusehen, wie von der Frau, die ich gekannt hatte, nur noch eine leere Hülle übrig war. Sie saß in dem Korbsessel in der Ecke, als habe sie längst aufgegeben. Ihr wunderschönes rotes Haar hing in Strähnen herab. Nichts war ihr mehr von ihrem Temperament geblieben. Ihr Körper war vollkommen in sich zusammengesunken. Der Geist hatte sie verlassen. Sie war in ihrer Depression gefangen.
    Mein Vater hatte ihr wie immer einen Stapel Bücher mitgebracht. Dazu eine Kassette mit Klaviermusik, mein letztes Schulfoto. Ich sah pickelig und unsicher aus darauf. Man hatte mir das Haar zurückgestrichen, damit ich meine ersten Ohrringe zeigen konnte. Sie nahm das Bild und hielt es in ihren Händen, ohne es auch nur anzusehen. Aber sie klammerte sich daran fest. Vater erzählte von unseren bevorstehenden Sommerferien in der Bretagne. Er versuchte auch, meine Mutter aufzuheitern, und fragte sie, ob sie sich schon auf die Schnecken und Froschschenkel freue. Und dass er extra für sie Sonnenschein bestellt habe. Mit einem Mal streckte sie die Hand nach ihm aus. Er nahm sie und hielt sie liebevoll in der seinen. Aber bald darauf glitten ihre Finger leblos aus den seinen. Sie gab nur einsilbige Antworten und zog sich wieder in sich selbst zurück. Am Ende gab er auf.
    »Ich hole uns am besten ein wenig Tee«, meinte er. »Ich bin vollkommen ausgetrocknet.« Mit gespielter Fröhlichkeit ging er aus dem Raum, leicht gebückt, wie er es von nun an immer tun würde.
    Als die Tür zufiel, richtete der Blick meiner Mutter sich zum ersten Mal auf mich. Ich zupfte am Saum meines Schulkleides.
    »Kommst du bitte her, Maggie?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie neben sich aufs Bett klopfte. Mit Bedacht legte sie das Foto auf den Tisch. Ich schlurfte durch den Raum und setzte mich neben sie. Ihre abgemagerte Hand nahm die meine und hielt sie.
    »Hast du meine Ohrringe gesehen?« Stolz drehte ich meinen Kopf, sodass man die goldenen Knöpfe in meinen Ohren sah.
    »Die sind hübsch.«
    Allerdings waren meine Ohren feuerrot und entzündet. Um die goldenen Knöpfe bildete sich jede Nacht eine schmerzende Kruste.
    »Ich möchte … ich wünschte, ich hätte dich dorthin bringen können«, sagte sie traurig.
    »Das ist schon in Ordnung«, antwortete ich großzügig. »Gar war ja da. Und Bel. Weißt du, dass sie dir zuerst mit einem Wattestäbchen ein orangefarbenes Kreuz aufs Ohrläppchen malen? Und es hat wehgetan.« Ich drehte mich einmal um mich selbst. »Aber ich habe nicht geweint.«
    »Maggie, Liebes, du weißt doch …« Sie räusperte sich, als schmerze sie der Hals. »Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe, oder?«
    »Schon«, murmelte ich. Ich rollte meine weiße Socke auf und wieder hinunter. Ich sah auf mein jüngeres Selbst auf den Familienfotos, auf denen wir ganz glücklich und normal aussahen. Ich richtete den Blick auf das Aquarell von Pendarlin, das Gar für ihre geliebte Tochter gemalt hatte, um das Licht in ihr Leben zurückzubringen. Ich sah überallhin, nur um den Blick in die großen blauen Augen meiner Mutter zu vermeiden. Ich konnte es

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