Nur 15 Sekunden
Journalistinnen dabei draufgingen.
Hugo würde nie wieder zum Leben erwachen.
Und mein Vater auch nicht. Genauso wenig wie die vielen Millionen, deren grausamer Tod den seinen vorweggenommen hatte, die zahllosen Leichen, die vielen, vielen Berge von Knochen. «Was macht schon einer mehr oder weniger?», musste er sich damals gedacht haben, als er gesprungen war, hinein in die lockende Leere, die ihm die Erleichterung völligen Vergessens versprach.
Warum war ich nicht so klug gewesen, Abe für seine Informationen zu danken und ihm zu raten, die Toten nicht wieder aufzustören? Wieso hatte ich, die Witwe eines Unfallopfers, das Kind von Holocaust-Überlebenden, ein gewaltsames Sterben nicht als die Schlangengrube erkannt, die es war? Warum war ich nicht einfach geflohen, so weit ich konnte? Warum hatte ich stattdessen angenommen, dass die Knochen zu Menschen gehörten, deren Familien wissen wollten, was passiert war, freiwillig wieder in alten Wunden wühlen wollten?
«Ihr seid solche Idealisten», hatte meine Mutter gesagt, als ich ihr erzählte, dass Hugo und ich nach Martha’s Vineyard übersiedeln und er dort eine Anwaltskanzlei eröffnen würde, die sich auf Umweltfragen spezialisierte. Idealisten: fast ein Schimpfwort aus dem Mund einer echten Zynikerin.
War ich tatsächlich neununddreißig geworden, ohne irgendetwas dazugelernt zu haben?
Und doch … und doch … Wenn Joe nicht dieses fünfzehnsekündige Video ins Netz gestellt hätte, wäre Abe niemals als undichte Stelle aufgeflogen. Er wäre jetzt nicht tot. Der Waffendieb säße nicht als mutmaßlicher Mörder hinter Gittern. Und vielleicht, vielleicht säße auch Courtney noch an ihrem Schreibtisch und hackte wie eine Wilde mit perfekt manikürten Fingern ihren nächsten Artikel in den Computer.
Ich schaltete die Alarmanlage ein und schloss die Tür hinter mir ab. Es war das erste Mal, dass ich am Morgen mein Haus verließ, seit meinem letzten Arbeitstag in der Redaktion. Joe. Wie ich ihn hasste. Während ich rasch die Bergen Street entlangging und in die Smith Street einbog, umzur U-Bahn zu gelangen, drehte ich mich dreimal um, in der Hoffnung, dass er mir nachlief wie ein kleiner Hund. Joe. Diesmal würde ich nicht davonlaufen. Ich würde ihm entgegentreten, mir die Lunge aus dem Leib brüllen. Aber ich würde nicht davonlaufen.
KAPITEL 11
Als ich schon fast bei der U-Bahn war, hielt ein roter Minivan neben mir und hupte vernehmlich. Ich ging weiter, doch als es noch einmal hupte, drehte ich mich um. Eine Frau mit wilden schwarzen Locken und einem strahlenden Lächeln winkte mir vom Steuer aus zu.
Es war Angela, Jess’ Frau. Angela Maria Cortez Ramirez. Ich machte sofort kehrt und näherte mich dem Wagen.
«Angela … wie schön, Sie zu sehen.»
«Steigen Sie ein», sagte sie zu mir.
Mein Blick war wohl ziemlich fassungslos. Einsteigen?
Sie merkte, dass sie etwas mehr Überzeugungsarbeit leisten musste, beugte sich näher zu mir und flüsterte: «Ich habe eine Waffe für Sie. Sagen Sie alles ab, was Sie vorhaben, ich fahre Sie jetzt zur West Side Range.»
Ich stieg ein und hatte noch kaum die Beifahrertür geschlossen, als Angela auch schon Gas gab und uns mit zwei geschickten Wendemanövern in Richtung Brooklyn Bridge steuerte.
«Und was genau ist die West Side Range?», fragte ich.
«Ein Schießplatz. Heute um zehn beginnt dort der Anfängerkurs. Er findet nur einmal die Woche statt, Sie dürfen ihn also nicht verpassen. Sie brauchen etwas Unterricht, um das Ding auch benutzen zu können. Ich leihe Ihnen meinePistole, solange Sie sie brauchen.» Wir hatten die Brückenrampe erreicht und fuhren gleich darauf zwischen den geschwungenen Tragseilen hindurch, die so untrennbar zur New Yorker Skyline gehören. «Jess hat mir von Ihrem Problem erzählt.»
«Mir hat er gesagt, ich soll mir keine Pistole anschaffen.»
«Das hat er auch zu mir gesagt, aber wissen Sie, solche Entscheidungen muss man für sich selber treffen. Schließlich stecken Sie in der Sache drin, nicht er. Mein Mann ist wirklich der Allerbeste, aber er ist selbst noch nie Tag und Nacht von einem Wahnsinnigen verfolgt worden, der … Wie auch immer. Schauen Sie in meine Handtasche. Es ist eine 45er, sie liegt sehr gut in der Hand.»
Ich öffnete Angelas große braune Ledertasche. Drinnen lag, zwischen einem Scheckbuch, einer übervollen Brieftasche, mindestens drei Kugelschreibern, einer Bürste, einem Handy und einem krümeligen Schnuller, eine kleine,
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