Nur 15 Sekunden
Dreizehnjährigen war das Anreiz genug. «Ich meine, da spricht man doch auch Englisch. Da könnte ich einfach auf irgendeine Schule gehen.»
«Ja, vielleicht. Ich werde mich darum kümmern. Aber das dauert sicher ein paar Tage. Glaubst du, du kannst noch ein bisschen aushalten und niemandem von diesem Gespräch erzählen? Also, wirklich niemandem.»
Ben nickte. Er wusste, dass eine Flucht nur bei absoluter Geheimhaltung gelingen konnte.
«Was ist mit Mr. Salter? Kann er nicht mitkommen?»
«Das ist eine schöne Idee, aber er hat seine Tochter hier und seine Arbeit.»
«Ja und? Ich weiß doch, dass ihr zwei aufeinander steht. Das merkt man total.»
«Aber Clara steht irgendwie auch auf ihn, glaubst du nicht?»
Darüber dachte er einen Moment nach, dann nickte er.
«Rich wird das sicher verstehen», sagte ich, als würde ich es selbst glauben. Natürlich würde er es verstehen. Aber es würde ihm trotzdem das Herz brechen, wenn ich fortging, und mir ebenfalls. Dann fiel mir meine Mutter ein. Wie sollte ich sie verlassen, gerade jetzt, wo sie langsam verschwand? Ich würde sie noch einmal besuchen müssen, ehe wir fortgingen, ihr alles erklären und hoffen, dass sie es irgendwie begreifen würde.
Am Dienstagmorgen, als ich mich gerade auf den Weg zur Waffenscheinausgabe machen wollte, klingelte mein Handy. Es war Elliot, und seine erschöpfte Stimme rief mir sein Bild vor Augen: das runde Gesicht ernst, die schmalen Lippen nicht wie sonst zum Lächeln verzogen.
«Bitte sag mir, dass du was von Courtney gehört hast», sagte er.
«Nein, keinen Ton. Ist sie etwa wieder nicht ins Büro gekommen?»
«Kein Mensch weiß, wo sie steckt. Heute Morgen waren zwei Polizisten hier und haben Fragen gestellt. Ihre Eltern haben sie als vermisst gemeldet. Seit Samstagmorgen, als ihr letzter Artikel erschienen ist, hat sie niemand mehr gesehen. Diese ganze Story ist völlig aus dem Ruder gelaufen.»
«Was nur wieder beweist, wie wichtig sie ist.»
«Das sehe ich auch so, und Overly ist so wild entschlossen, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Wir müssen unbedingt weitermachen, ich will nur einfach nicht, dass …» Dass noch mehr Leute verschwanden oder starben? «Wie sieht es denn bei dir aus, Darcy? Besteht die Aussicht, dass du bald wieder ins Büro kommen kannst?»
«Joe Coffin ist vorgestern Abend bei mir eingebrochen und hat meine Katzen getötet.»
«O Gott. Das tut mir leid.»
«Inzwischen habe ich mein Haus in eine Festung verwandelt.»
«Ach herrje. Ich sehe schon, es ist noch schlimmer geworden.»
«Das kann man wohl sagen.»
Falls ich irgendwie leichtfertig klinge
, hätte ich gern noch hinzugesetzt, ließ es aber, weil ich es nicht über mich brachte,
dann liegt das daran, dass ich ein paar Entscheidungen gefällt habe. Ich werde mir eine Knarre kaufen und aus der Deckung kommen. Courtney wäre stolz auf mich.
«Darcy, wir stehen weiter hinter dir. Sobald das alles vorbei ist, kommst du zurück in die Redaktion. Versprochen.»
«Danke, Elliot.» Jetzt kamen mir doch die Tränen, ein paar nur, und die schluckte ich hinunter, um weiterhin ruhigund professionell zu wirken. Dieser Impuls ließ mich fast wieder unter Tränen lachen.
«Ich habe drei Reporter abgestellt, die Stan bei der Knochen-Story unterstützen.»
«Wird Courtneys Verschwinden mit dem Mord an Abe Starkman in Zusammenhang gebracht?»
«Bisher noch nicht. Aber im Grunde rechnen wir alle damit, dass es darauf hinausläuft. Du nicht auch?»
«Doch.» Natürlich.
Trotzdem hatte ich mir das Ausmaß dieser grauenvollen Möglichkeit bisher noch nicht richtig klargemacht: Courtney konnte dem Machtkampf zwischen der Stadtverwaltung und der Mafia zum Opfer gefallen sein, so wie Abe Starkman, der bereits mit dem Leben dafür bezahlt hatte, dass er die Sache mit den Knochen publik gemacht hatte. Und alles nur, weil ich es nicht fertiggebracht hatte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Weil ich Courtney mit hineingezogen hatte. Weil wir wissen wollten, wem die Knochen gehörten, und einen leichtsinnigen Kreuzzug gestartet hatten, um die Toten vom Vergessen zu erlösen.
Weil wir alle solche Angst vor dem Tod hatten.
War es das? Hatten wir tatsächlich so viel Angst vor dem unvermeidlichen Vergessen im Tod? Würde es uns helfen, wenn wir den Knochen Namen geben konnten, eine Biographie? Diese Menschen würden ohnehin nicht wieder zum Leben erwachen, ganz gleich, was wir taten und wie viele Regierungsbeamte und ehrgeizige
Weitere Kostenlose Bücher