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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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noch abzuwenden sein, dass meine Mutter alle geistigen Verbindungen zu unserem gemeinsamen Leben verlor. Und es zerriss mir fast das Herz, als ich ihr Zimmer betrat und sie in ihrem Sessel in der Ecke sitzen sah, den Blick starr auf etwas gerichtet, das ich nicht sehen konnte.
    «Hallo, Mama.»
    Keine Reaktion.
    «Das ist Angela, eine Freundin von mir.»
    Die Mundwinkel meiner Mutter hoben sich leicht. «Freunde sind Goldstücke, sie passen nur nicht so leicht in die Tasche.»
    Angela und ich wechselten lächelnd einen Blick.
    «Mama.» Ich zog mir einen Stuhl heran und griff nach ihrer Hand. «Ich bin Darcy, deine Tochter.»
    «Darcy. So hieß meine Lieblingspuppe.»
    «Das wusste ich ja gar nicht.»
    «Ich musste sie zurücklassen.»
    «Mama. Hör mir mal zu. Ich muss eine Zeitlang fortgehen.»
    «Ganz allein in ihrem Puppenbett, das Mama mir geschenkt hat.»
    «Nur für kurze Zeit, bis   … nun ja, bis   …»
    «Sie muss ein paar wichtige Dinge klären», warf Angela ein. «Aber danach kommt sie wieder.»
    «Genau, Mama. Ich komme wieder, ganz bestimmt.»
    «Es wird gefährlich, wenn wir alle zusammen gehen. Aber es ist trotzdem besser, zusammenzubleiben.»
    «Mama? Wo bist du gerade?»
    «Wir müssen noch vor der Verlegung aufbrechen, Rosa. Kommst du mit?»
    Gut, dann war ich also Rosa. «Ja.»
    «Du auch, Marta?»
    Und Angela war Marta. «Ja.»
    «Wartet bis kurz vor Sonnenaufgang», flüsterte meine Mutter, «und kommt dann nacheinander zu den Latrinen. Wir treffen uns hinter Block vierzehn, wo die Hündin letzte Woche ihre Jungen bekommen hat. Dort ist eine Senke im Boden, wo die Erde weich ist.»
    «Gut, Eva», sagte ich.
    «Seid vorsichtig, Kinder.»
    «Natürlich.» Angela rückte näher heran.
    Wir saßen vor meiner Mutter und begleiteten sie auf ihrer Reise. Sie hatte mir nie von ihrer Flucht aus dem Lager erzählen wollen. Jetzt hatte sich dieser störrische Widerstand verflüchtigt. Sie war wieder dort und rüstete sich zum Aufbruch.
    «Ich gehe zuerst, ich bin die Älteste. Ich grabe einen Tunnel durch den Schlamm und schaffe uns einen Durchgang. Rosa kommt als Nächste, dann Marta. Ihr müsst so leise sein wie möglich!»
    Meine Mutter holte ein paarmal tief Luft, sie ballte die Fäuste, kniff die Augen zusammen, und ihre weichen Lider wellten sich in einer Vielzahl feiner Hautfältchen. Dann hielt sie den Atem an und grub sich durch den Schlamm unter dem Zaun hindurch. Sie wirkte so konzentriert, dass ich sie tatsächlich als Elfjährige vor mir sah, wild entschlossen, auf die andere Seite zu gelangen.
    Dann fuhr sie plötzlich zusammen, als hätte sie ein Geräusch gehört. «Nein, Rosa! Lass sie, geh nicht zurück. Komm!»
    Ihre Augen schlossen sich wieder, ihr Atem wurde schneller. «Lauf, Rosie. Nicht so langsam!» Sie rannten, rannten, fort vom Lager. Marta war nicht mehr bei ihnen. Und offenbar hatten sie kalte Füße, denn meine Mutter rollte in ihren weichen, braunen Hausschuhen die Zehenein, rieb die Füße aneinander. Sie durchlebte das alles noch einmal.
    «Bleib nicht so dicht bei mir!», flüsterte sie eindringlich. «Lauf, bis du in den Wald kommst. Dort treffen wir uns wieder.»
    Obwohl sie innezuhalten schien, sah ich sie doch weiterrennen, mit schnellen Schritten über den festgefrorenen Boden. Dann fuhr sie wieder zusammen, so wie ein Baby erschrickt: Ganz plötzlich riss sie die Arme in die Höhe und die Augen auf.
    Jetzt lief sie weinend weiter, Tränen rannen ihr übers Gesicht, doch sie wischte sie nicht weg, weil sie ohnehin gleich gefroren. Ich sah ihr Mädchengesicht, von Eiskristallen bedeckt, während sie weiterrannte, in Richtung Wald. Sie war allein. Rosa und Marta waren beide tot.
    «Nicht zurück, bloß nicht zurück.» Die Worte klangen mechanisch, wie ein Mantra. «Nur fort. Schneller. Bloß nicht zurück.»
    «Mama», rief ich. «Ich kann dich jetzt nicht verlassen.»
    «Rette dich, lass sie zurück.»
    «Ich komme wieder, das verspreche ich dir.»
    «Bloß nicht zurück.»
    «Wie hast du das alles überlebt, Mama? Wie hast du es überlebt? Sag es mir!»
    «Vergiss sie. Sie sind tot. Rette dich.»
    Sie legte den Kopf an die weiche Lehne ihres Sessels und schlief ein. Und ich sah sie vor mir: ein hingestreckter Engel, mitten im Schnee der Wälder. Sie musste sich schließlich gerettet haben, denn sie saß ja hier und erzählte uns ihre Geschichte. Aber würde sie mir auch den Rest der Geschichte erzählen? Und würde ich rechtzeitig zurück sein? Was war geschehen

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