Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
Vom Netzwerk:
anschließend weiszumachen, mein Vater habe es doch noch aufgehängt. Aber was hätte das genützt? Wenn es nicht das Bild war, fand sich sicher ein anderer imaginärer Gegenstand, an dem sie das Gefühl, dass irgendetwas fehlte, festmachen konnte, und es fehlte ja auch etwas: ihr Gedächtnis. Jedes Mal, wenn ich sie besuchen kam, war eine weitere Erinnerung unwiederbringlich verschwunden. Ich hatte zusehends gegen das Gefühl anzukämpfen, sie längst verloren zu haben. Immer wieder musste ich mir bewusstmachen, dass das nicht stimmte. Sie war doch noch am Leben, lag hier vor mir im Bett.
    Ich hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war. Als Kind hatte ich diese Hand oft betrachtet, und die quadratische Handfläche mit den kräftigen Fingern war mir geradezu perfekt erschienen. Die kurzgefeilten, rotlackierten Fingernägel erinnerten mich damals an Rosenknospen, und ich fasste sie oft zu einem Strauß zusammen. Dann breitete ich sie wieder aus, legte meine kleine Hand in ihre große, drückte meine Finger an ihre und verkündete: «Siehst du? Unsere Hände sind genau gleich groß.» Und meine Mutter stimmte mir jedes Mal zu, obwohl es ganz offensichtlich nicht der Fall war. Erst als ich selbst erwachsen war, fragte ich mich, weshalb sie eigentlich nicht wieder geheiratet hatte. Unsere Liebe zueinander war so stark, dass ich lange gar nicht aufden Gedanken kam, sie könnte sich vielleicht nach noch mehr Liebe von einem anderen Menschen sehnen. Erst als ich selbst einen Sohn hatte, begriff ich, dass sich wohl jedes Kind früher oder später solche Gedanken macht, und fragte meine Mutter, warum sie sich nach dem Tod meines Vaters nicht mehr mit anderen Männern verabredet hatte. Und sie antwortete: «Ich habe nie einen Mann gefunden, der gut genug war, ihn zu ersetzen.» Aber sie hatte ja auch gar nicht gesucht. Nach dem Selbstmord meines Vaters schien sie alles vermieden zu haben, was die Beziehung zwischen ihr und mir hätte stören können. Sie hatte gespürt, wie wichtig ihre ungeteilte Liebe für mich war, und wusste, dass ihr Verzicht es uns ermöglichte, nur füreinander zu leben. Bis ich erwachsen war und sie verlassen hatte.
    Ja, ich hatte sie verlassen. Ihre Hand, grau und von blauen Adern durchzogen, lag wie eine Feder in meiner, man sah jeden Knochen unter der zarten, altersfleckigen Haut. Sieben Jahre Studium und Arbeit in Boston, danach fünfzehn Jahre auf Martha’s Vineyard. Zweiundzwanzig Jahre hatte ich weit weg von ihr verbracht und sie nur hin und wieder besucht.
Wie auch immer, Mama, jetzt bin ich wieder da. Wir sind wieder zusammen.
Aber war es nicht längst zu spät? Ich wünschte mir so sehr, sie könnte mir sagen, was in ihrem Kopf vorging, mich an ihrer Reise teilhaben lassen. Und ich wollte ihr von meinen Problemen erzählen, von Abe Starkman und den Knochen, von Joe Coffin, der mich belästigte, von Bens wundervollem Auftritt am Tag zuvor. Ich wollte ihr erzählen, dass mir wieder ein Mann begegnet war, der mir gefiel, dass er Rich hieß. All das hätte ich ihr gerne gesagt. Aber ich hatte schon oft die Erfahrung gemacht, dass es sie sehr verwirrte, wenn ich ihr von meinem Leben erzählte. Wir konnten nur über Dinge reden, die weit zurücklagen. In letzter Zeit fing sie an, ganze Jahrzehnte unseresgemeinsamen Lebens zu vergessen. Sie konnte sich nicht einmal mehr vorstellen, dass ich je geheiratet hatte, geschweige denn, dass mein Mann gestorben und ich Witwe war. Oder dass ich einen dreizehnjährigen Sohn hatte und bei der Zeitung arbeitete, die sie jahrelang täglich gelesen hatte. Ich hatte versucht, ihr zu erzählen, dass ich jetzt Journalistin bei der
Times
war, weil ich wusste, wie stolz sie noch vor zehn Jahren darauf gewesen wäre. Doch alles verschwand so schnell wieder aus ihrem Gedächtnis, als hätte ich es nie erzählt. Wenn ich bei ihr war, dann schien es, als wäre nichts von dem, was mein Leben prägte, je passiert. Manchmal hatte es sogar etwas Befreiendes, sich darauf einzulassen. Lange schaffte ich es allerdings nie, die Illusion aufrechtzuerhalten. Ich landete immer wieder unsanft auf dem Boden der Tatsachen, während sie unbekümmert weiterschwebte.
    Dabei konnte niemand wirklich sagen, wie viel von der Vergangenheit ihr schwindendes Gedächtnis bereits ausgelöscht hatte. Erinnerte sie sich beispielsweise noch an das Lager? Sie sprach nie davon. Ich wusste, dass mein Vater und die erste Zeit ihrer Ehe noch präsent waren, doch offenbar hatte sie seinen Tod vergessen.

Weitere Kostenlose Bücher