Nur 15 Sekunden
verharrte er den ganzen Nachmittag, die ganze Nacht hindurch, die Füße steif gefroren in den Stiefeln, die er einem toten Lagerkameraden abgenommen hatte. Doch mein Vater bezeichnete sich als glücklich, weil er sich dort im eiskalten Schnee hinter seinem Baum verstecken konnte, während sich auf der nahen Straße Zehntausende ausgemergelte Gefangene vorbeischleppten. Es waren seine Kameraden, und er hatte sie verlassen, weil er wusste, dass am Ende der Straße der Tod lauern würde.
Ganz allein im deutschen Hinterland kam er erst aus seinem Versteck hervor, nachdem die letzten Schritte auf der gefrorenen Straße verklungen waren. «Mir war ganz heiß vor Angst», hatte er mir erzählt, und diese Angst wärmte ihn, während er immer weiter in den Wald hineinlief, zurück in die Richtung, aus der sie seit drei Tagen marschiert waren. Seine fast erfrorenen Füßen beachtete er nicht. Er versuchte, über die Grenze zurück nach Polen zu gelangen, um dort vielleicht das Glück zu haben, den russischen Befreiern in die Arme zu laufen, vor denen die SS sie mit Waffengewalt zu fliehen gezwungen hatte.
Fünf Tage lang irrte er allein durch den verschneiten Wald. Er hielt sich von der Straße fern, wusste nicht, in welche Richtung er eigentlich ging, in welchem Land er sich befand. Vielleicht war er noch in Deutschland, vielleicht schonwieder in Polen, wie sollte er das wissen? Ohne Nahrung hielt er sich mit geschmolzenem Schnee und der Hoffnung am Leben, dass er seine ältere Schwester, das letzte Mitglied seiner Familie, das er in Auschwitz noch lebend gesehen hatte, bevor sie in ein Frauenlager verlegt worden war, bald wiedersehen würde. Sie hatte nicht überlebt, und sie sollten einander nie wiedersehen, doch das wusste er damals noch nicht. Er schleppte sich durch den eisigen Wald in dem ständigen Bewusstsein, dass der Feind überall sein konnte und ihn auf der Stelle erschießen würde, sobald er ihn entdeckte. Aber vielleicht wäre auch das ein Glück gewesen. Denn letztlich fürchtete er sich weniger davor, getötet zu werden, bevor er einen sicheren Ort erreichte, als davor, allein in diesem Wald eines einsamen Todes zu sterben.
Um dieser furchtbaren Angst Herr zu werden, redete er sich ein, er wäre bereits in Sicherheit. Er tat, als existierte gar kein Feind. Als wäre er nicht drei Jahre lang gefangen gehalten, ausgehungert und gedemütigt worden. Als hätte er nicht seine gesamte Familie zumindest aus den Augen und vielleicht sogar ganz verloren. Er tat, als ginge er einfach nur im Wald spazieren. «Die Phantasie», hatte er später oft zu mir gesagt, «ist eine mächtige Verbündete.» Und für ihn war sie die Rettung.
Schließlich fand er tatsächlich nach Polen zurück und stieß auf die russische Armee. Genauer gesagt stießen zwei russische Soldaten auf ihn, als er schon halb im Delirium am Waldrand entlangirrte. Die beiden hatten Mitleid und brachten ihn im Haus eines Bauern unter, der die Widerstandsbewegung unterstützt hatte. Und so erlebte mein Vater das Kriegsende in einem Federbett vor einer großen Portion gefüllter Paprika. Seine Familie – Vater, Mutter und zwei Schwestern – sah er niemals wieder. Es stellte sich heraus, dass sie alle gestorben waren, in verschiedenen Lagern,allein. Dafür fand er Eva Gertelstein, meine Mutter. 1952 erkannten sie einander in einer überfüllten U-Bahn in Manhattan. Wenig später heirateten sie und begannen mit vereinten Kräften ein neues Leben.
Ich hatte mich an den Verlust meines Vaters gewöhnt, doch seine «mächtige Verbündete» brauchte ich nach wie vor. Seit mein Vater gestorben war, hatte ich mich oft in Phantasiewelten geflüchtet. Ob er mir diese Fähigkeit bewusst vermittelt hatte, um mich darauf vorzubereiten, besser mit seinem Verlust fertig zu werden? Zahllose Stunden hatte er mit mir gespielt, hatte bäuchlings auf dem Wohnzimmerteppich Häuser, Paläste und ganze Vergnügungsparks für meine Puppen gebaut. Später lernte ich, dass auch Lesen eine Fluchtmöglichkeit bot. Und Schreiben eine weitere. Die ideale Flucht jedoch war die Liebe, sie ließ die Einbildungskraft ein schier unverwüstliches Netz aus Realitäten, Träumen und Hoffnungen spinnen, das einen über Jahre hinweg sicher halten konnte. Auch in die Augen des eigenen Kindes konnte man sich flüchten, sich ganz in seinen Bedürfnissen verlieren. Oder man konnte sich ein anderes Ziel suchen, sein ganzes Leben der Arbeit widmen. Es war sogar möglich, sich in jeden Winkel,
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