Nur 15 Sekunden
Aufzug dorthin ließ sich nur mit einem Schlüssel betätigen. Ich hatte meinen eigenen und konnte kommen und gehen, wann ich wollte. Meine Mutter dagegen besaß keinen Schlüssel, ebenso wenig wie ihre Mitpatienten. Sie durften die Station nur in Begleitung von Angehörigen oder Pflegepersonal verlassen. Diese Maßnahme diente ihrem eigenen Schutz, denn Alzheimerpatienten verirrten sich leicht. Manchmal ging ich mit meiner Mutter nach draußen, doch in letzter Zeit verbrachten wir unseregemeinsame Zeit immer häufiger oben im siebten Stock, wo sie sich wohl fühlte und nicht noch zusätzlich durch die ungewohnte Umgebung verwirrt wurde.
Ich kam in der Zeit zwischen Nachmittagskaffee und Abendessen, also sah ich als Erstes nach, ob sie vielleicht im Gemeinschaftsraum war, wo sie oft mit anderen Patienten zusammensaß, um zu plaudern oder aus einem ganz bestimmten Fenster zu schauen, von dem aus man zwischen zwei Gebäuden den Hudson sah. Dort war sie aber nicht, und so ging ich, nachdem ich die Anwesenden begrüßt hatte (drei Frauen und ein Mann, die mich schon unzählige Male gesehen hatten und dennoch glaubten, sie träfen mich zum ersten Mal), den Flur entlang zum Zimmer meiner Mutter.
Sie lag mit ein paar Kissen unter dem Kopf auf dem Bett und hielt die Lider geschlossen, schlief aber nicht. Als ich näher kam, öffnete sie die Augen und sah mich, ihr einziges Kind, verständnislos an. Viel zu lange, wie mir schien. Offenbar fragte sie sich, wer diese Besucherin sein mochte; doch dann lächelte sie endlich. Inzwischen fürchtete ich bei jedem Besuch, dass meine Mutter mich nicht mehr erkennen würde. Die Angst davor bereitete mir fast körperliche Schmerzen, und doch war es unvermeidlich. Seit sieben Jahren bemächtigte sich die Krankheit Stück für Stück des Verstandes meiner Mutter. Anfangs hatte sie noch zusammen mit einer Haushaltshilfe zu Hause leben können, doch irgendwann hatte das nicht mehr genügt. Sie brauchte fachkundige Pflege rund um die Uhr. Ich wohnte damals noch auf Martha’s Vineyard und konnte weder darauf achten, dass die Haushälterin alles richtig machte, noch meine Mutter oft genug besuchen, und so hatte ich ihr den Platz in diesem Heim gesucht, was sich als gute Entscheidung herausgestellt hatte. Ich selbst hatte mich längst daran gewöhnt, dass ich,sobald ich den Aufzug verließ, eine andere Welt betrat. Und selbst Ben hatte sich längst an das gewöhnt, was einem hier abverlangt wurde. Jederzeit konnte einer der Patienten vor einem stehen und einem die abstrusesten Geschichten erzählen. Oder aber man selbst erzählte jemandem etwas aus dem eigenen Leben und wurde fünf Minuten später nach seinem Namen gefragt, als hätte man gerade erst den Raum betreten.
Meine Mutter streckte mir die Arme entgegen, und ich beugte mich über sie und legte meine Wange an ihr weiches Gesicht. Der vertraute Geruch, diese unverwechselbare Mischung der Moschusnote ihres Körpers und des Babypuders, den sie benutzte, tröstete mich sofort. Dann ließ sie den Kopf wieder auf die Kissen sinken, und ihr weißes Haar umgab sie wie eine kleine Wolke.
«Du kommst ein bisschen spät», sagte sie mit diesem wundervollen Lächeln, das ihr Gesicht immer dann erhellte, wenn sie eine kritische Bemerkung machte.
«Ja, ein bisschen vielleicht.» Ich machte mir nicht die Mühe, sie darauf hinzuweisen, dass es ein spontaner Besuch war.
«Hast du heute viele Hausaufgaben?»
«Nein, es geht.»
«Gut. Wenn du fertig bist, hilfst du mir beim Kochen. Du kannst dir ja schon mal überlegen, was du gern essen möchtest.»
«Das mache ich. Wie fühlst du dich denn heute, Mama?»
«Sehr gut. Ich habe ja auch nichts, worüber ich mich beklagen könnte, stimmt’s?»
«Da hast du recht.»
«Da drüben an der Wand hing immer ein Bild. Er hat es abgenommen, als sie hier renoviert haben. Ich habe ihn schon so oft gebeten, es wieder aufzuhängen, aber er hat esimmer noch nicht gemacht. Könntest du ihn noch einmal darum bitten? Das Bild mit dem Hof und der Treppe.»
«Ja, ich frage ihn.» Doch «er» war mein Vater, und das Bild, um das es ging, hatte ich nie gesehen. Meine Mutter sprach in letzter Zeit häufig davon, und ich vermutete, dass es wohl aus einer Zeit vor meiner Geburt stammen musste, vielleicht sogar aus ihrer Kindheit. Ich hatte schon überlegt, nach einem Bild zu suchen, das in etwa ihrer Beschreibung entsprach – ein Hof und eine Treppe, das konnte doch nicht allzu schwer sein –, um ihr
Weitere Kostenlose Bücher