Nur 15 Sekunden
Der größte Teil der letzten dreißig Jahre schien verschwunden zu sein. Es war ein unaufhaltsam fortschreitender Gedächtnisverlust, wie ein Foto, das von oben nach unten verblasst.
Je mehr sie mir entglitt, desto mehr wünschte ich ihr, dass nicht nur die jüngsten Erinnerungen, sondern auch die schlimmsten, lange zurückliegenden gelöscht würden. Wenn das alles schon geschehen musste, warum sollte der Prozess sie dann zurück in ihre Kindheit führen? Wie grausam wäre es, wenn die Krankheit sie in ihre früheste Jugend zurückversetzte, in einen der schrecklichsten Albträume, den die Menschheit je erlebt und der meine Mutter zumWaisenkind gemacht hatte. Während ich neben ihr saß und ihre zarte Hand in meiner hielt, hoffte ich inständig, dass sie sterben würde, bevor das geschah. Doch wenn die Krankheit sie tatsächlich zwang, diese Abgründe noch einmal zu durchleben, dann würde ich bei ihr sein und ihr die Hand halten, als eine Brücke zur Gegenwart. Vielleicht würde ein Teil von ihr dann doch wieder spüren, dass sie nicht nur überlebt, sondern in der Zeit danach auch Liebe und einen sicheren Ort gefunden hatte. Neben der Liebe zu Ben und der Sorge um ihn war das die größte Verantwortung, der ich mich zu stellen hatte: Ich musste meiner Mutter lebendiges Zeichen dafür sein, dass sie überlebt hatte.
Der Anblick der Knochen heute hatte mir das Ausmaß der schrecklichen Erlebnisse meiner Mutter bewusstgemacht, und mich überfiel die Angst, dass die «Stimmen», ihre Erinnerungen, mit der Macht einer Flutwelle über sie hereinbrechen und den letzten Rest Verstand unter sich begraben würden.
Doch als ich hier bei ihr saß und ihr beim Schlafen zusah, war ich zuversichtlich, dass es noch nicht geschehen war. Noch war sie in Sicherheit. Ich blieb eine Stunde, dann küsste ich sie auf die Stirn und ging leise hinaus.
Als ich die tiefe Schlucht der West End Avenue durchquerte, entschloss ich mich spontan, nicht direkt mit der U-Bahn zur 72nd Street zu fahren, sondern stattdessen umzukehren und einen Abstecher zu Zabar’s an der Ecke Broadway und 81st Street zu machen. Ben würde mir die halbe Stunde Verspätung sicher nicht verübeln, wenn ich uns dafür ein leckeres Abendessen mitbrachte und dazu noch ein paar Köstlichkeiten aus der angeschlossenen Konditorei. Ich drehte mich um – und da sah ich ihn.
Joe. Kein Zweifel. Es war Joe. Er war etwa einen halben Häuserblock hinter mir. Und bis ich mich umgedreht hatte,war er mir gefolgt, da war ich mir sicher. Einen Augenblick lang sahen wir einander an. Mir stand der Schock wohl ins Gesicht geschrieben, und er schaute überrascht, ertappt drein. Einen Augenblick lang schien er drauf und dran, die Situation durch einen raschen Gruß zu retten. Die Pupille seines beeinträchtigten Auges weitete sich noch mehr, wie um mich einzusaugen. Und dann …
Dann drehte er sich um und rannte, rannte einfach in die entgegengesetzte Richtung davon.
«Joe!» Ich lief ihm nach. Er konnte doch nicht einfach so tun, als hätte er mich nicht gesehen. Es war schlimm genug, dass er mir folgte, aber dann nicht einmal dazu zu stehen, machte alles noch viel schlimmer. Und wegrennen? Das war feige. Und idiotisch.
Er war jung und schnell. Ich konnte ihn unmöglich einholen, vor allem nicht mit einer schweren Tasche an der Schulter, die mit Notebook, Büchern und allen möglichen anderen Unterlagen vollgestopft war.
«Joe!»
Meine Rufe folgten ihm, als er in Richtung Riverside Drive abbog. Als ich selbst an die Ecke kam, konnte ich ihn nirgends mehr entdecken. Vielleicht war er in die Eingangshalle eines angrenzenden Bürohauses geflüchtet. Oder er war im nahen Riverside Park verschwunden.
Keuchend rannte ich noch ein Stück die 74th Street in Richtung Park entlang, dann gab ich auf. «Joe!», rief ich ein letztes Mal, blieb dann stehen und lauschte hilflos meiner Stimme, die durch die leere Straße hallte. Was wollte dieser Junge bloß von mir? Warum verfolgte er mich? Und wie konnte ich ihn dazu bringen, endlich damit aufzuhören?
KAPITEL 4
Im Januar 1945 hatte mein Vater den Todesmarsch vom Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen überlebt. Er war in einen tiefen Wald geflüchtet, wo der Schnee bereits knietief lag und es erbarmungslos immer weiterschneite. Dort hatte er sich versteckt. Klein und abgemagert, wie er war – ein zwölfjähriges Kind von höchstens fünfunddreißig Kilo –, gelang es ihm, sich hinter einem Baum zu verbergen, und da
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