Nur Der Tod Kann Dich Retten
Job?«, wollte Ian wissen. »Hast du nicht einen Vertrag?«
»Ich bin sicher, dass sie unter den gegebenen Umständen Verständnis haben werden.«
»Die Umstände«, wiederholte Ian mit wissender Miene. »Es geht also darum, dich an mir zu rächen.«
»Es geht nicht um dich.«
»Findest du das nicht ein klein wenig egoistisch?«
»Wie bitte? Ich bin egoistisch?«
Tim kam mit halb übergestreiftem Jackett und baumelnder Krawatte ins Zimmer gestürmt, garantiert alarmiert vom lauter werdenden Streit ihrer Eltern. »Okay. Ich bin soweit.«
»Du nimmst die Kinder nirgendwohin mit«, sagte Ian, als ob Tim unsichtbar wäre.
»Ich denke, sie sind alt genug, diese Entscheidung selbst zu treffen.«
Wie würde sie sich entscheiden, fragte Megan sich. Wollte sie wirklich wieder an einer neuen Schule anfangen, alle ihre Freundinnen zurücklassen – und Greg?
Ihr Handy klingelte. Megan griff in ihre Segeltuchtasche und hielt den Apparat ans Ohr. Sie hörte die Stimme am anderen Ende und versuchte, die Worte aufzunehmen, während sie spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich.
»Was ist?«, fragte ihre Mutter, die sofort neben ihr stand.
Megan ließ das Telefon wieder in ihre Tasche fallen und starrte ihre Mutter durch einen dichter werden Schleier aus Tränen an. »Das war Ginger Perchak«, flüsterte sie. »Sie haben Liana gefunden.«
Ihre Mutter sah sie wortlos an, als wüsste sie schon, was als Nächstes kam.
Megan sank auf den nächsten Stuhl und starrte aus dem Fenster in die Dämmerung. »Sie ist tot.«
9
S heriff John Weber saß in seinem Streifenwagen am Rand der ruhigen Wohnstraße und kämpfte gegen die aufsteigende Galle an. In seinen fast zwanzig Jahren im Polizeidienst hatte er viele schreckliche Dinge gesehen – die zermalmten Leichen von Unfallopfern, die aufgeschlitzten Leiber betrunkener Schläger, die verschwollenen Gesichter geschlagener Ehefrauen, die zu absolut jedem Super Bowl dazugehörten. Er hatte Opfer von Jagdunfällen und sexueller Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch gesehen. Er hatte Teenager gesehen, die ihren Magen auskotzten, Frauen, die sich die Augen ausweinten, und Kinder, die sich die Lunge aus dem Hals schrien. Er hatte gedacht, er hätte alles gesehen.
Aber so etwas hatte er noch nie gesehen.
Ein junges Mädchen, das er persönlich ebenso gut gekannt hatte wie ihre Eltern, das sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hatte, lag etwa eine halbe Meile von der Stelle entfernt, an der Ray Sutter vor ein paar Tagen seinen Wagen in den Graben gefahren hatte, in einem eilig gescharrten Grab, den halben Kopf von einer aus kurzer Distanz abgefeuerten Kugel weggepustet, ihr übriger Leib ein Festschmaus für Tiere und Insekten, sodass der Gerichtsmediziner Tage, wenn nicht Wochen brauchen würde, um festzustellen, welche Qualen sie vor ihrem Tod möglicherweise durchlitten hatte. Er hätte nicht einmal sicher gewusst, dass es Liana Martin war, wenn Greg Watt nicht das MOVE, BITCH-T-Shirt wiedererkannt hätte, das sie anhatte. Greg gehörte zu dem Trupp Jugendlicher,
der von Cal Hamilton angeführt wurde. Cal hatte ausgesagt, dass entweder Greg oder Joey Balfour auf den verdächtigen Erdhügel gestoßen war. John nahm sich vor, die drei sowie Ray Sutter später noch einmal ausführlich von seinen Deputies befragen zu lassen. (Gab es womöglich einen finstereren Grund, warum Ray auf dieser speziellen Straße unterwegs war?) Das T-Shirt des Mädchens war natürlich schmutzig und voller Blut, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass eine gepflegte Frau wie Judy Martin ihre Tochter so etwas haben, geschweige denn zur Schule tragen ließ. Dabei musste er an Amber denken. Eltern hatten nur noch wenig Einfluss auf ihre Kinder, wenn diese erst einmal ein bestimmtes Alter erreicht hatten, erkannte er und kämpfte gegen die Tränen.
Es war nicht das erste Mal an diesem Abend, das er seine Gefühle nur mit Mühe zurückhalten konnte.
Denn selbst der Anblick von Lianas verwesender Leiche war nicht so schlimm gewesen wie das schmerzverzerrte, schöne Gesicht von Judy Martin, als sie vom grausamen Tod ihrer Tochter erfahren hatte. John blickte zu dem adretten weißen Bungalow mit den schwarz-weiß gestreiften Markisen und der kunstvoll geschnitzten Haustür. Er sah sich auf diese Tür zugehen, die geöffnet wurde, bevor er geklingelt hatte, sah den hoffnungsvollen Blick in Judys Augen schnell beklommen werden, bevor er in blankes Entsetzen umschlug. John bezweifelte, dass er das Bild
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