Nur Der Tod Kann Dich Retten
reden möchtest«, sagte ihre Mutter.
Aber mit Schweigen hatte sich Megan schon immer wohler gefühlt. Im Gegensatz zu den meisten Mädchen ihres Alters
behielt sie ihre Gedanken lieber für sich. Wenn man seine Gefühle nicht laut ausposaunte, musste man sie später nicht verleugnen. Die Anonymität des Internets war ihr auf jeden Fall lieber, weil sie ihre Ängste dort mit anderen teilen konnte, ohne sich zu offenbaren. Und ganz sicher ging es vielen anderen ebenso.
Ist das nicht furchtbar , schrieb einer, was mit Liana passiert ist?
Das arme Mädchen , klagte ein anderer. Das arme, arme Mädchen.
Und eine Dritte: Mein Herz ist gebrochen. Meine Seele blutet. Das ist wirklich das Ende der Welt.
Es gab natürlich auch Beiträge völlig anderer Art:
Sie war ein Flittchen.
Wen schert es einen Dreck?
Sie hat bekommen, was sie verdiente.
Die Absender dieser Schmähungen würden bestimmt ermittelt werden, obwohl das wahrscheinlich auch nicht weiterhelfen würde. Megan vermutete, dass jemand, der clever genug war, am helllichten Tag einen Menschen zu entführen, zu ermorden und die Leiche zu entsorgen, ohne erwischt zu werden, nicht so blöd sein würde, derart offensichtliche Indizien zu hinterlassen. Sheriff Weber und seine Deputies hatten die ganze Stadt befragt, manche Leute sogar mehrmals, und bisher noch keine konkrete Spur gefunden. Abgesehen von Lianas Leiche natürlich, die der Gerichtsmediziner immer noch nicht freigegeben hatte. Angeblich sollte im Laufe der Woche die Beerdigung oder zumindest ein Gedenkgottesdienst stattfinden. Megan wollte nicht hingehen, aber wie konnte sie sich darum drücken?
Sie fragte sich, ob Lianas Mörder auch da sein würde. Würde er wie alle anderen Trauernden den Kopf zum Gebet senken und der verzweifelten Familie tröstende Worte zuflüstern? Würde er in der Nähe des Grabs stehen und zusehen, wie Lianas Leiche ein weiteres Mal in die Erde gelassen
wurde? Würde er gar neben ihr stehen und ihre Schulter streifen?
Megan schüttelte den Kopf, um den unangenehmen Gedanken zu vertreiben. Sie drehte sich um und hoffte, dass Greg Watts sich hereingeschlichen hatte und das Geschehen aus der letzten Reihe beobachtete, die Hände locker an den Hüften und ein Grinsen auf den Lippen. Aber die drei Türen der Aula waren geschlossen, und Greg war nirgends zu sehen. Offenbar waren alle Kandidaten für das Vorsingen bereits da. Widerwillig wandte sie den Blick wieder zur Bühne.
Für die vielen Menschen hier ging es erstaunlich gedämpft zu. Alle wirkten leicht geschockt. In der ersten Reihe hockten Ginger Perchak und Tanya McGovern nebeneinander und beschäftigten sich nervös mit ihren Textbüchern. Eine Reihe dahinter saß Amber Weber und memorierte, stumm die Lippen bewegend, ihren Text. Ein Stück weiter links streckte Brian Hensen den Arm nach einem Textbuch von Mr. Lipsman aus. Dahinter saß Peter Arlington, die Arme um die Brust geschlungen, und starrte grimmig zu Boden. Victor Drummond und seine gespenstische Freundin Nancy mit den Waschbäraugen und den seltsamen Piercings waren ebenfalls da, dazu weitere Schüler, die Megan nur vom Sehen kannte. Sogar Joey Balfour machte mit, obwohl er vorher erklärt hatte, dass er nur kommen wollte, weil Schauspielerinnen bekanntlich hemmungslos und sexbesessen waren. »Und wegen Liana natürlich«, fügte er hinzu, und alle mussten unwillkürlich lachen. Doch so wie ihn einige der Mädchen aus der neunten Klasse jetzt ansahen, hatte er vielleicht sogar Recht, dachte Megan und fragte sich, ob sie Greg Watts auch so angaffte.
Plötzlich fiel ein Textbuch in ihren Schoß. »Schau dir bitte den Part der Kate an«, erklärte Mr. Lipsman salbungsvoll irgendwo über ihr, schlug das Textbuch an der entsprechenden Stelle auf und berührte dabei ihre Hand. Megan zog sie eilig zurück und rieb die Finger an ihrer Jeans ab. Mr. Lipsman
blieb neben ihr stehen und zwinkerte ihr, als sie den Blick hob, neckisch zu.
»Mr. Lipsman«, rief Delilah von ihrem Platz am Ende der ersten Reihe. »Sie haben mich vergessen.«
Ohne sich zu ihr umzudrehen, machte Mr. Lipsman weiter und zwinkerte Megan noch einmal zu, als wollte er ihr sagen, dass er Delilah nicht ausstehen konnte und sie nicht zum engeren Kreis der Schauspieler rechnete.
Megan empfand eine unerwartete Welle des Mitgefühls für Delilah, als das unansehnliche Mädchen sich von ihrem Platz erhob. Aus dem Mitgefühl wurde offene Empörung, als sie beobachtete, wie Delilah über einen Fuß
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