Nur der Tod sühnt deine Schuld
bevor sie sich so weit in sich selbst zurückzog, dass niemals wieder jemand zu ihr würde durchdringen können?
»Molly, meine Süße, ich wollte dir nur sagen, dass Miss Jackson vor den Ferien nicht mehr zur Schule kommt.« Molly sah sie fragend an, und es war offensichtlich, dass sie den Grund erfahren wollte.
Haley brachte es einfach nicht fertig, ihr die Wahrheit zu sagen. Der heftige Wunsch, Molly zu beschützen, machte es ihr unmöglich, der Kleinen zu erzählen, dass Miss Jackson tot war. Molly war doch erst acht, und in ihrem Leben hatte es schon zu viele Tote gegeben.
»Sie ist weggezogen«, improvisierte Haley. »Bis zum Ende des Schuljahrs habt ihr wahrscheinlich eine andere Lehrerin.«
Molly kniff die Augen zusammen und verbarg das Gesicht im Kopfkissen. Haley blieb auf der Bettkante sitzen. Sie saß noch dort, als Molly längst eingeschlafen war.
Die Stille im Raum wurde nur durch Mollys leises Schnarchen unterbrochen. Sie hatte sich im Schlaf umgedreht und lag jetzt auf dem Rücken, die Lippen leicht geöffnet.
»O Molly«, flüsterte Haley. »Wenn du mich doch nur an dich heranlassen würdest.« Sie streckte die Hand aus und strich ihr eine Strähne ihres weichen Haares aus dem Gesicht.
Wenn sie wach gewesen wäre, hätte Molly die Berührung gar nicht erst zugelassen. Nie suchte sie Haleys Nähe, nie schien sie in den Arm genommen oder geküsst werden zu wollen. Aber ich will das, dachte Haley auf einmal. Ich brauche dich, Molly.
Haley stand auf, verblüfft über diese Erkenntnis. Ihr ganzes Erwachsenenleben lang war sie stolz darauf gewesen, unabhängig zu sein. Nachdem ihr Vater gestorben war, hatte sie niemandes Liebe mehr eingefordert.
Aber das Kind ihrer Schwester brauchte sie. Sie wollte nicht nur, dass Molly sie akzeptierte, sondern auch, dass sie sie liebte. Das Problem war allerdings, dass Haley nicht wusste, wie sie sie dazu bringen sollte.
»Also habe ich sie heute Morgen zur Schule gefahren und der Vertretung erklärt, warum sie nicht spricht«, erzählte sie Grey am nächsten Tag beim Mittagessen.
»Sie hätten ihr die Wahrheit sagen sollen, Haley. Jetzt erfährt sie wahrscheinlich in der Schule, was mit Sondra Jackson passiert ist. Dann weiß sie, dass Sie sie angelogen haben, und das wird sie Ihnen bestimmt nicht näherbringen.«
Haley lehnte sich zurück und seufzte frustriert. »Okay, ich habe einen Fehler gemacht. Aber als ich in ihre unschuldigen Augen geschaut habe, konnte ich ihr einfach nicht sagen, dass ihre Lehrerin umgebracht worden ist.« Haley wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und zog daran. »Der Mord an Sondra Jackson hat mich zu Tode erschreckt, und ich wollte Molly nicht auch noch zu Tode erschrecken.«
Grey lächelte verständnisvoll. »Ich weiß, Sie haben es gut gemeint.«
»Ja, aber damit habe ich ihr nur noch einen Grund mehr geliefert, mich zu hassen.«
»Kinder sind gut im Verzeihen. Erklären Sie ihr einfach, warum Sie gelogen haben, wenn das Thema zur Sprache kommt.« Grey stach mit der Gabel in seine Pommes frites. »Die Polizei hat mich bei diesem Fall nicht hinzugezogen, ich weiß also nichts darüber. Sind Sie über die aktuelle Entwicklung informiert?«
»Ich habe heute Morgen mit Detective Tolliver telefoniert, aber er meinte, es gibt nichts Neues. Falls er es einrichten kann, kommt er heute Nachmittag bei uns vorbei. Wir wollen versuchen, Molly dazu zu bringen, dass sie alles aufschreibt. Ich habe allerdings zunehmend das Gefühl, dass sie überhaupt nichts gesehen oder gehört hat.«
»Mollys Trauma könnte auch daher rühren, dass sie ihre Mutter tot aufgefunden hat. Sie muss nicht unbedingt Zeugin der Tat geworden sein«, stimmte Grey ihr zu.
Haley hatte letzte Nacht kaum ein Auge zugetan. Der Alptraum, den sie in der Vergangenheit schon so oft geträumt hatte, hatte sie wieder einmal verfolgt. Den ganzen Morgen über fühlte sie sich extrem angespannt, doch in dem Moment, als sie das Salad Shoppe betrat und Grey sah, kamen ihre inneren Dämonen ein wenig zur Ruhe.
Was nicht bedeutete, dass sie nicht auch aufgeregt war. Haley hatte seit fast einem Jahr keine sexuelle Beziehung mehr gehabt. Tim, ihr letzter Freund, hatte sich glücklicherweise als Mistkerl herausgestellt, bevor sie mit ihm ins Bett gegangen war. Und davor hatte sie eine Durststrecke von etwas mehr als einem halben Jahr hinter sich gebracht, in der sie der Männerwelt komplett abgeschworen hatte.
Während sie Grey im mittäglichen Trubel des
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