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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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gehen musste, noch der, der blieb, hat das Datum je vergessen.
    Wann immer Greschek nach Breslau kam, wurde er von Walter in die Arme geschlossen wie der verlorene Sohn vom Vater. Von Jettel wurde er wie der Vater begrüßt, den sie sich ein Leben lang gewünscht hatte. Zu Weihnachten 1937 schickte der Getreue eine Gans und einen Hasen. Mit Rücksicht auf die empfindsamen Großstädter die Gans gerupft, den Hasen ohne Fell - die Feinfühligkeit bewegte Walter noch mehr als der Festtagsbraten.
    Einen Tag vor Silvester 1937 stand Greschek in der Breslauer Goethestraße vor der Tür. Bei diesem Besuch erkundigte er sich nach jedem Detail von Walters Abreise. Die Abfahrtszeit des Zuges notierte er, warf den Zettel jedoch sofort wieder weg. »Noch hab ich ja alle Tassen im Schrank«, brummte er. Als er das sagte, war Walter sicher gewesen, dass Greschek bei seiner Abfahrt am Bahnhof sein würde. Der Gedanke war ihm bei Tag Trost, doch nachts überlegte er beunruhigt, ob Grescheks Erscheinen nicht für alle riskant wäre. Man wusste nicht, von wem man beobachtet wurde und was aus Beobachtungen werden konnte. Nun war Walter froh, dass er geschwiegen hatte. »Siehst du, das hab ich ja gleich gewusst«, gehörte zu den Redensarten, die Jettel als Waffe gebrauchte.
    Die Jungen am anderen Ende des Bahnsteigs hatten angefangen zu singen. Walter wurde unruhig. Er versuchte, den Text zu verstehen. Junge Burschen plus Gesang ergaben nach der neuen Zeitrechnung in der Regel Hasslieder gegen die Juden. Es war aber schon längst nicht mehr sein Herz, das Walter schützen wollte, sondern Reginas Ohren. Ihr Nachahmungstrieb reichte, um die ganze Familie in Gefahr zu bringen. Ein Junge, einen Kopf größer als seine Kameraden, sang besonders klar. »Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Drum nahm ich meinen Stock und Hut...«
    »Und tat das Reisen wählen«, erinnerte sich Walter. »Das mussten wir als Kinder auch singen. Nur damals brauchte ich keine Reisen zu tun.« Er schaute sich nach den beiden dunkel gekleideten Männern um, deren Hüte und Notizbücher ihn geängstigt hatten; sie waren nicht mehr da. »Gott sei Dank«, sagte er erleichtert.
    »Sie singen doch nur«, sagte Jettel. »Das Lied ist doch wirklich harmlos. Regina hat es immer so gern gehört. Alle vierundzwanzig Strophen musste ich ihr vorsingen, als sie zahnte. Weißt du noch?«
    »Vierzehn«, verbesserte Walter, »vierzehn Strophen sind es. Das weiß ich genau. Ich musste sie alle mal abschreiben. Als Strafarbeit beim Lehrer Gladisch.«
    »Also, wenn du wirklich willst, dann gehen wir.«
    Walter war überrascht, fast konsterniert. Gerade von seiner Frau hatte er nicht erwartet, sie würde Verständnis für ihn haben, ihm die letzten Minuten erträglicher machen.
    »Ja«, sagte er. Er presste Jettels Hand und wagte nicht, sie zu küssen. Ein Kuss am Bahnhof war ein Stück Endgültigkeit. Das war in fast jedem Film so. Er nickte in
    Richtung Regina. Es würde sie schonen und für alle ein Quäntchen mehr Sicherheit bedeuten, wenn sie den Vater nicht abreisen sah. Heute keine Tränen und morgen keine Fragen.
    »Der Korb«, mahnte Ina. Sie drückte ihrem Schwiegersohn einen riesigen, unhandlichen Henkelkorb in die Arme. Bauersfrauen nahmen solche Körbe mit auf die Reise. Zu Hause in Sohrau manchmal noch mit einem lebendigen Huhn drin und immer mit Würsten, die aussahen wie Stecken. Walter hatte den mit einem rot-weiß karierten Tuch bedeckten Korb und die silbern glänzende Thermosflasche, die auf einer Seite herausragte, auf dem Boden stehen sehen, aber seine Augen hatten sich geweigert, ihn zur Kenntnis zu nehmen. »Was soll ich damit?«, fragte er. Der Unwillen in seiner Stimme beschämte ihn. Es war immer wieder die gleiche Geschichte. Keiner konnte sich vorstellen, was im anderen vorging. Die Zurückbleibenden wussten schon gar nicht, wie es im Kopf der Davonziehenden aussah. Und im Herzen.
    »Es sind lauter Sachen drin, die du gern isst«, lockte Ina. »Eierhäckerle und Heringshäckerle. Und der Rest von der gepökelten Gänsebrust, die dir immer so gut schmeckt. Außerdem ein Glas Schmalz. Mit Grieben und Zwiebeln. Das wird dir bis Afrika reichen. Und ein Päckchen Natron. In der weißen Serviette ist ein Mohnkuchen. Genau wie ihn deine Schwester macht. Ich hab mir das Rezept schon von ihr geben lassen, als wir Reginas ersten Geburtstag gefeiert haben. Als hätte ich’s geahnt.«
    »Hör auf, Ina. Um Himmels willen, hör auf. Wenn ich bei jedem

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