Nur die Liebe bleibt
hatte trennen können und er sie deshalb immer ziemlich heftig ausgeschimpft hatte. Auch das tat ihm leid. Seine Gedanken wanderten von Leobschütz nach Warschau. Als junger Mann war er mit seiner Schwester Liesel zwei Tage dort gewesen. Lie-sel hatte einen Kinderarzt aus Krakau treffen sollen, von dem eine gemeinsame Bekannte hatte wissen lassen, der Mann sei fleißig, tüchtig und gut gestellt und vor allem auf der Suche nach einer Ehefrau. Solche Strategien waren vor allem in Kleinstädten Brauch, die heiratsfähigen jüdischen Mädchen keine gute Auswahl an passenden Partnern boten. Um der Begegnung alle Peinlichkeit zu nehmen und ihr gar einen Anstrich von Zufälligkeit zu geben, hatten sich die beiden Väter auf Warschau als Treffpunkt und auf Walter als Begleiter geeinigt.
Die Kalkulation war nicht aufgegangen. Die drei jungen Leute hatten hölzern und wortkarg in einem eleganten Kaffee gesessen - ausgesucht hatte es der präsumptive Bräutigam. Die Rechnung für alle drei (der Kinderarzt hatte zwei Stück Sahnetorte gegessen und zwei Cognacs getrunken, die Geschwister nur je eine Tasse Kaffee und keinen Kuchen) hatte Walter bezahlen müssen. Der wohlhabende Heiratskandidat war, nachdem er um die Rechnung gebeten hatte, zur Toilette gegangen und erst nach einer Viertelstunde wieder aufgetaucht. Danach hatte Liesel das geplante Abendessen zu dritt unter dem Vorwand abgesagt, sie hätte Kopfschmerzen. Viel mehr war Walter von Warschau nicht in Erinnerung geblieben. Nun erschien ihm die Stadt und das kleine Lokal, in dem er am Abend mit seiner Schwester Bigos gegessen hatte, ein Gericht aus Sauerkraut, Pilzen und wunderbar saftigem Fleisch aller Arten, wie ein Stück Heimat. »Verlorene Heimat«, murmelte er.
Walters Schwester, die schon an Auswanderung gedacht hatte, als noch viele Juden in Deutschland die Gefahr nicht sehen wollten, die sich jedoch nicht von ihrem Vater trennen mochte, war groß und blond, selbstlos, entschlossen und mutig. Sie und der eineinhalb Jahre ältere Bruder hatten ein Leben lang aus nichtigstem Anlass miteinander gestritten, und doch waren sie einander tiefer verbunden als Menschen, die viel und oft von Geschwisterliebe und Familienloyalität reden. Mit sieben Jahren hatte Walter seine in Todesnot schreiende Schwester aus einem Teich gezogen, mit zehn pflegte sie die Löcher in seinen Hosen zu flicken, damit die Mutter sie nicht entdeckte. Solange er Anwalt war, schickte Walter seiner Schwester monatlich Geld. Jedes Mal schrieb er »Aber nur für dich!«, und jedes Mal gab sie alles für den Haushalt und »Redlichs Hotel« aus, das von Jahr zu Jahr weniger Umsätze machte. Sobald Walter seine Frau und Regina nach Afrika geholt hätte, wollte er sich bemühen, das Gleiche für Liesel zu tun. In Stunden der Zuversicht sah er auch seinen Vater auswandern.
Der Speisewagen vom Warschauer Zug war schon morgens erleuchtet. Drei Paare saßen dort, die Frauen alle jung, chic und sehr städtisch mit langen silberfarbenen Zigarettenspitzen und kecken Hüten, wie sie Jettel gern trug. Selbst in Leobschütz, wenn sie morgens zum Bäcker ging. Von Tischlampen mit sonnengelben Schirmen strömte ein Licht, das die Behaglichkeit properer Bürgerstuben signalisierte. Nicht alle Tische waren eingedeckt. Auf dem unmittelbar hinter der Tür funkelte blank geriebenes Silberbesteck in hellen, niedrigen Körbchen. Auch die langstieligen Gläser, die gelben Rosen in kleinen grünen Vasen, das weiße Tischtuch und die zu Bischofsmützen gefalteten Servietten entstammten der makellosen und geordneten Welt, die Walter Redlich bereits fremd und fern erschien. Er war nur noch ein Zaungast, geduldet bis zur deutschen Grenze.
Der Pass, die Auswanderungspapiere und die Schiffskarte von Genua nach Mombasa lagen in der braunen Aktentasche, ein Geschenk von Ina zum bestandenen zweiten Staatsexamen. Ohne diese Tasche aus schönem Kalbsleder war Walter keinen Tag in seine Kanzlei gegangen und nie zum Gericht. Auf der Innenseite hatte Jettel in ihrer schönen Schrift seinen Namen und die Adresse geschrieben: Leobschütz, Asternweg 4.
»Warum nicht meine Büroadresse?«, hatte Walter gefragt. »Ach, mit seinem Büro zieht man ja mindestens einmal im Leben um. Hat mein Onkel Bandmann immer gesagt. Im Asternweg werden wir aber immer bleiben. Jetzt, wo wir den schönen Sandkasten für Regina und die elegante Loggia angelegt haben.«
Der Satz und die Erinnerung an Jettels Stimme mit dem typischen Klang der Breslauer
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