Nur die Liebe bleibt
die Lokomotive sehen. Ich will keine Fugen.«
»>Ich will< gibt’s nicht mehr«, mahnte ihr Vater, »das haben wir doch auch ganz genau besprochen, Regina. Erinnerst du dich denn gar nicht?«
»Ich weiß, was du gesagt hast. Ganz genau weiß ich das. Du hast gesagt, der Hitler hat verboten, dass jüdische Kinder >ich will< sagen.« »Psst«, zischten Mutter und Großmutter. Jettel legte ihrer Tochter die Hand auf den Mund, eine mechanische, seit der Übersiedlung nach Breslau so oft wiederholte Geste, dass sie keine Zärtlichkeit mehr empfand, wenn sie ihr Kind berührte. Nur die Angst spürte sie, die zum ständigen, bedrängenden Begleiter des Lebens geworden war. Sie schaute Regina, die Tränen in den Augen hatte, noch nicht einmal an. Einen Moment, der floh, ehe er überhaupt zu fühlen war, drückte Jettel ihren Kopf an Walters Schulter. Sie rieb die Wange an seinem feuchten Mantel, schaute ins Licht und wusste nicht, was sie suchte. »Schreib sofort«, sagte sie, »wenn du in Afrika bist. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich die Ungewissheit aushalten soll. Und die Sorgen. Das Kind ist doch noch so klein.«
»Aber, Jettel, bis Afrika lass ich dich doch nicht auf Nachricht warten. Heini und Macie haben beide erzählt, dass von den Schiffen in jedem Hafen die Post abgeht. Außerdem schreib ich dir bestimmt schon aus Genua. Du wirst sehen. Ich habe mindestens zwei Tage Zeit, bis die >Ussukuma< ablegt. Und vergiss nicht, abends mit Regina zu beten.«
»Wie kommst du denn ausgerechnet jetzt aufs Beten? Wozu soll das gut sein?«
»Wir brauchen einen, der es noch gut mit uns meint.« »Ich hab immer gedacht, du glaubst nicht an Gebete.« »Das war einmal. Da konnten wir es uns leisten, den Kopf hoch zu tragen und nicht zu beten. Wir wussten trotzdem, dass es Ihn gibt.«
»Herrgott, Walter, warum guckst du dich andauernd um? Wartest du auf jemanden? Ausgerechnet heute. Du machst mich noch ganz meschugge.« »Aus Gewohnheit«, schwindelte Walter, »aus purer Gewohnheit. Es wird lange dauern, bis ich mich nicht mehr umschaue.« Es irritierte ihn, wie sehr der zweite Satz der Wirklichkeit entsprach, und noch mehr grämte er sich, dass Jettel wieder einmal den richtigen Instinkt für Dinge hatte, von denen sie nichts wissen konnte. Es war der Fluch der neuen Zeit, dass Mann und Frau einander nicht mehr vertrauten, der Bruder misstraute der Schwester, Kinder hatten Angst vor ihren Eltern und die Eltern vor den Kindern. »Es ist Zeit«, murmelte er, »bringen wir es hinter uns. Man soll den Abschied nicht länger hinauszögern als nötig. Das sagen alle.«
Walter hatte erwartet, nein, er hatte gehofft und auch fest damit gerechnet, dass sein Freund Greschek zum Bahnhof kommen würde, um Abschied zu nehmen. Gehörte nicht zur letzten Stunde in der Heimat der Händedruck eines Vertrauten, die Versicherung des einzigen Getreuen, dass man sich wieder sehen würde? Musste nicht wenigstens irgendein Wort gesagt werden, das in der Welt ohne Wurzeln Trost sein würde? Jeder brauchte irgendein Zeichen, dass nicht alles, wofür man gelebt und woran man geglaubt hatte, für immer dahin war. In der Fremde hatten die Heimatlosen solche Rettungsringe so nötig wie das tägliche Brot.
»Da, du guckst schon wieder«, sagte Jettel triumphierend. »Du glaubst wohl, ich merk das nicht. Aber so dumm bin ich nicht, dass ich nichts merke. Ich weiß ganz genau Bescheid.«
»Dumm ist nur der arme Tropf, der dich für dumm hält, Jettel.«
Josef Greschek, der Unbeugsame, war sechs Jahre lang der Anker im Sturm gewesen. Für Walter, der sich gerade erst als Anwalt in Leobschütz niedergelassen hatte, als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurde Greschek Stütze, Klagemauer und Freund. Nachdem Walter in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 sein geliebtes Oberschlesien verlassen hatte und sich in Breslau um die Auswanderung bemühte, reiste Greschek immer wieder von Leob-schütz an. Allerdings wurden seine Besuche in der Goethestraße von Mal zu Mal kürzer. Der letzte vor einer Woche hatte nur knapp zwei Stunden gedauert - Walter hatte selbst darauf bestanden. »Es ist besser so«, sagte er, als er Greschek zum letzten Mal zu der kleinen Pension begleitete, in der noch niemand fragte, woher einer kam und wohin er wollte. »Besser für uns beide. Ich muss mich nur noch daran gewöhnen, dass ein Mann seine Freunde in Gefahr bringt, wenn die sich mit ihm sehen lassen. Ach Greschek, ich habe zu lange die Augen zugemacht. Bis an mein Lebensende
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