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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Bissen, den ich zu mir nehme, an zu Hause denke, fällt mir doch alles noch viel schwerer.« »Die Preise im Speisewagen werden dir erst recht schwerfallen«, sagte Ina. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den zu erreichen, der ihr ein Sohn gewesen war. So leise, dass nur er es hörte, sagte sie: »Ihr müsst zusammenbleiben. Versprich mir das.«
    Erst sehr viel später ging Walter auf, dass dies die letzten Worte seiner Schwiegermutter gewesen waren. Hatte er wenigstens genickt, ihre Hand gedrückt oder ihr mit seinen Augen die Zuversicht vermittelt, dass Jettel bei ihm für immer in guter Obhut sein würde? Er wusste es nicht. Schaudernd erkannte er, dass diese Unsicherheit nur der Anfang war. Die Fragen, die ohne Antwort blieben, unfertige Sätze und nicht mehr ausgesprochene Gedanken würden fortan seine Begleiter sein. Ungebeten und gehasst. War das der Preis des Davonkommens? Walter presste den sperrigen Korb an seine Brust. Einen Moment war es ihm, als würde er in einem dichten Nebel stehen. Der war immer noch ein Stück Heimat. Er lähmte die Sinne und erstickte alle Qual. Der so lange gefürchtete Abschied war schon Vergangenheit. Ein einziger Schnitt hatte gereicht. Keine Wunde hatte geblutet. Es hatte keine Tränen gegeben, nur den barmherzigen Tod aller Gefühle.
    Dann bohrten sich Pfeile in seinen Kopf. Jede Spitze ließ ihn wissen, er hätte die verraten, die er liebte. Der Impuls, aus dem Bahnhof zu laufen, Jettel und sein Kind an sich zu ziehen und sich nie mehr von ihnen zu trennen, war Feuer und Wasser zugleich. Er glaubte gar, den Tod zu fühlen, und doch kehrte das Leben zurück in seinen Körper und mit diesem zweiten Leben die Vernunft, sein Verantwortungsgefühl und sein Mut. Sie trieben ihn fort von allem, was er liebte, und doch hatte er in den letzten Momenten, die ihm in der Heimat blieben, nicht mit Gott gerechtet. Walter Redlich, der ein glühender deutscher Patriot gewesen war und jederzeit sein Leben für sein Vaterland hergegeben hätte, setzte sich auf den größeren der beiden Koffer. Mit geschlossenen Augen wartete er auf den Zug ins Exil.
    Unerwartete Begegnung
    Liegnitz-Dresden, 8. Januar 1938
    Wenn der Auswanderer seinen Kopf zum heruntergelassenen Fenster hinausstreckte, konnte er für die Dauer eines Herzschlags vergessen, dass sein Ziel Afrika war. Noch stand der Zug. Die Lokomotive dampfte nicht. Niemand rief nach einem Gepäckträger. Kaum eine Tür war offen. Walter hörte Jettel sagen: »Wir sind mal wieder pünktlicher als Hahnemanns Töchter.« Er versuchte zu lächeln, aber die Erinnerung machte ihn wehmütig. Er nahm sich vor, sobald er wieder mit Jettel zusammen war, sie zu fragen, wer eigentlich der Herr Hahnemann mit den überpünktlichen Töchtern war. »Was auch immer dir einfällt«, sagte Jettel, »ich weiß nie, ob du dich über mich lustig machst oder nicht.«
    »Das ist das Salz unserer Ehe«, erwiderte Walter. Diesmal vermochte er zu lächeln. Aus Furcht, sein ängstliches Verhalten könnte unangenehm und als undeutsch auffallen, war er sofort eingestiegen - die Gruppe von singenden Jugendlichen am Ende des Bahnsteigs hatte unmittelbar nach dem »Brunnen vor dem Tore« das Horst-Wessel-Lied angestimmt und war auf ihn zumarschiert. Oder hatten die Jungen sich nur ihre Beine vertreten oder ihre Knabenknie wärmen wollen? Die Zeit ließ keine Wahrscheinlichkeitsrechnungen mehr zu. Der

    Walter, der sich sein Lebtag nicht vor sangesfreudigen Burschen gefürchtet hatte, stand auf dem Gang vor seinem Abteil. Er lauschte seinem eigenen Atem und konnte noch immer nicht fassen, was mit ihm geschehen war. Die Zigarette, an der er zog, hatte weder Geschmack, noch beruhigte sie seine Nerven, wie er es gewohnt war. Wenn seine rechte Hand zufällig sein Gesicht berührte, merkte er, dass sie eiskalt war. Vom deutschen Winter oder vom Leiden an einem Verbrechen, das im Namen der deutschen Ehre geschah? Walter Redlich, der von seinem Vater gelernt hatte, keinen Menschen zu fürchten, musste sich zwingen, seinen Ekel und seine Angst nicht aus seinem Körper zu würgen. Er straffte seine Schultern und nahm sich vor, mit Anstand und Mut den Sirenen zu entkommen, die ihn zurück in sein Vaterland holen wollten. Wie Odysseus verstopfte er seine Ohren und ließ sich an den Mast binden. Da sah er das weiße Emailschild mit dem Befehl »Nicht auf den Boden spucken«. Die Augen fixierten es, als könnte es einen Mann wieder aufrichten, der kein Urvertrauen mehr in das Land

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