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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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seiner Väter hatte, doch die deutsche Sprache verweigerte einem ehemaligen Bürger ihren Schutz. Wie SS-Runen, die nach ihm greifen wollten, erschienen Walter die schwarzen Buchstaben. Weil er sich mit Angstvorstellungen nicht auskannte und sie für unmännlich hielt, senkte er beschämt den Kopf.
    »Siehst du«, rief Jettel aus dem Nebel, der sie verschluckt hatte, »das kommt von deiner verdammten Pünktlichkeit. Nichts als Scherereien.«
    Noch war Genua nur ein Wort, das Synonym für Auf-bruch, Abschied, Ferne und Fremde. Die Heimat war zum Greifen nahe. Walter konnte sie sehen und hören und riechen. Er brauchte nur seine Hand auszustrecken, um nach dem Land zu greifen, das er immer noch das seine nannte. Es wurde Deutsch gesprochen, Deutsch gedacht, Deutsch gesungen und Deutsch gelacht. Auch Gott sprach Deutsch. Walter kannte Hamburg, Berlin und München. Und er kannte Leobschütz, den Ring, die Klosterstraße und den Asternweg. Er kannte Gutfreunds und Bacharachs und die vielen anderen Freunde, die sich weigerten auszuwandern, weil sie die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, nicht für möglich hielten. Auf dem gegenüberliegenden Gleis wartete der Schnellzug nach Warschau auf das Signal zur Abfahrt. Der Mann, der über die dampfende Lokomotive herrschte, sah aus, als wäre er einem Lesebuch für brave Schüler entstiegen - schwarzes, schweißnasses Gesicht, ein Lachen, das Vertrauen erweckte, Hände wie Pranken, groß genug, um den Mut aus einem Bären zu schütteln. Der Hüne wirkte so stolz und selbstbewusst wie einer, der die Geschicke eines gesamten Staats zu lenken hat. Wie alle Kinder seiner Zeit und alle Knaben in Sohrau außer dem kränkelnden Sohn vom Lehrer, der schon mit fünf Jahren eine Brille und Einlagen hatte tragen müssen, hatte Walter Lokomotivführer werden wollen. Noch als Zehnjähriger, die erste Lateingrammatik in der Schultasche, hatte er vom Leben auf den Schienen geschwärmt.
    »Das ist nichts für unsereinen«, hatte ihn die Mutter zurechtgewiesen. »Juden verdienen ihr Brot mit dem Kopf. Es reicht, wenn dein Vater auf einem Gaul sitzt und Soldat spielt. Ausgerechnet an der Front.«
    Gepäckträger mit Schultern, die zu gebeugt waren für die
    Lasten, die ihnen aufgebürdet wurden, hielten Ausschau nach Kunden. Einige Fenster des Zugs waren mit grünen Gardinen verhangen - eine sanfte Aufforderung an die Nacht, sich nicht an den Fahrplan zu halten. Eine Zeit lang beschäftigte sich Walter mit der Frage, ob Menschen, die in Zügen einschliefen, wohl angenehme Träume hätten oder ob die Träume fiebernd und bedrängend wären wie die seinen in den letzten Monaten. Noch kam er zu keinem Ergebnis. Vor einem Waggon der zweiten Klasse stand ein Familienpatriarch in einem bodenlangen schwarzen Mantel mit einem pelzbesetzten Kragen. Der elegante Reisende wirkte wie ein Gutsbesitzer aus Oberschlesien. Seine üppige, rothaarige Frau trug einen klein gelockten Persianer; die beiden Söhne rezitierten allerdings Abzählreime, die auf Gütern allenfalls den Kindern der Knechte gestattet waren. Alle vier lachten. Der jüngere der beiden Buben hielt einen roten Luftballon. Es war der gleiche, der eine halbe Stunde zuvor am Karren mit den belegten Broten festgebunden und die Sehnsucht in Reginas Augen getrieben hatte. Walter beneidete die Familie - nicht weil das Ehepaar teuer gekleidet war und ihren ausgelassenen Söhnen nicht den Mund zu verbieten brauchte, sondern weil alle vier zusammen reisen durften.
    Er dachte an die Bahnfahrt von Leobschütz nach Breslau und dass Regina besonders quengelig gewesen war und immer wieder gefragt hatte, weshalb ihr Schaukelpferd nicht hatte mitfahren dürfen. »Weil man deutschen Pferden keinen Umzug zumutet«, hörte sich Walter sagen. Seine Stimme war so schroff gewesen, dass Regina und Jettel gleichzeitig in Tränen ausgebrochen waren und er sie beide hysterische Frauenzimmer genannt hatte. Erst jetzt, ein halbes Jahr später, tat ihm sein unbeherrschter Ausbruch leid. Er spürte ein großes Bedürfnis, das Jettel zu sagen, doch mit entmutigender Genauigkeit malte er sich aus, was seine Frau geantwortet hätte. Sie schätzte grundsätzlich nur Reuebekenntnisse, die unmittelbar auf die Tat folgten.
    Der Familienvater stieg mit den Seinen in den Zug ein. Der rote Luftballon entschwebte in Richtung Bahnhofsdach, ohne dass der Junge, dem er entflogen war, ihm nur einen Blick gönnte. Walter fiel ein, dass Regina sich nie ohne Tränen von einem Luftballon

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