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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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entkommen konnte, versuchte er, Oberstudienrat Gladisch noch einmal auf die Bühne zu bitten, doch weder der noch der kleine Katschinsky zeigten sich. Stattdessen kam Regina.
    Für einen furchtbaren Moment, in dem ihm selbst das Atmen Schmerzen bereitete, verwechselte Walter Traum und Wirklichkeit. Seine Tochter stand im blauen Faltenrock da. Die kleine Ledertasche für den Kindergarten, der keine jüdischen Kinder aufnahm, baumelte von ihrer Schulter. In acht Monaten müsste sie eingeschult werden. »Und wo, wenn ich fragen darf?«, seufzte ihr Vater. Wieder sprach er so laut, als hätte er noch einen Vertrauten, mit dem er reden konnte. Dass so ein banaler Satz genügte, um einem Mann allen Mut zu nehmen. Und das letzte bisschen Kraft.
    In den dünnen Nebelschwaden erschienen dem Reisenden die Krähen auf den verschneiten Feldern wie Boten der Zukunft. Verkündeten sie die sieben biblischen Hungerjahre, oder hungerten sie bereits selbst? »Ich versteh nichts von Vögeln«, grinste Walter zum Fenster hinaus. Seine Züge wurden weich. Und jung! Der alte Stammtischwitz war immer ein durchschlagender Erfolg gewesen. Besonders bei vornehmen alten Damen, die ihre gute Erziehung in Ehren hielten. Walter hatte Regina beigebracht, den Satz von den Vögeln zu sagen, wenn sie irgendwo einen Wellensittich im Käfig oder eine Meise im Garten sah. Beim ersten Mal hatte Jettel getobt und ihn einen Proleten genannt. »Nein, ein Kindskopf«, hatte seine Schwiegermutter gesagt. Warum musste der einzige Mann auf der Welt, der seine Schwiegermutter so liebte wie die eigene Mutter, sich von ihr trennen?
    Auf den Ästen lag, vom Dampf vieler Lokomotiven seiner Unschuld beraubt, grauer Schnee; in winzigen Gärten schlummerten die Büsche und Beete unter einem weißen Laken. Weshalb sehnten sich die, die ohne Hoffnung waren, nach einem solchen Tuch? Der Zug fuhr eine Anhöhe hinunter. Die schlafenden Häuser warfen den Schall zurück. Sobald ein Moment der Stille einkehrte, grübelte Walter, wie auf einer langen Reise wohl die Zeit beschaffen war und weshalb sie sich nicht im Tempo des Zugs bewegte. Gab es für ihn überhaupt noch eine Zeit, die in Stunden, Minuten und Sekunden einzuteilen war? Den Terminkalender hatte Rechtsanwalt und Notar Dr. Walter Redlich in seiner Praxis zurückgelassen. Roter Lederrücken und innen die scharf gestochene Schrift des kleinen Tenscher. Seit seiner Lehrzeit war der kleine Tenscher für die Post zuständig. Er stammte aus Hennerwitz, bekam rote Ohren, wenn er schwindelte, und zu Weihnachten für seine Kollegen immer zwei große Gläser mit Mohnklößen von seinem Muttel. Beim Abschied von seinem Chef hatte er das Parteiabzeichen im Knopfloch gehabt und Tränen in den Augen. Tenscher, reiß dich zusammen, ein deutscher Mann weint nicht.
    Zwischen zwei scharf gestochenen Bildern, die sich zu tief in das Gedächtnis eines Mannes bohrten, der das Verdrängen nicht beizeiten gelernt hatte, vermutete Walter, der Zug wäre in Liegnitz eingefahren. Er drückte seinen Kopf gegen die Scheibe, doch auf dem düsteren Bahnhof nahm er keine Spur von Leben wahr. Er sah weder Mensch noch Koffer und noch nicht einmal einen Karren. Nur ein Hund bellte. War es ein schlesischer Köter oder der Höllenhund? Ein trübes Licht erleuchtete eine kleine Pfütze. Das Wasser schimmerte braun. »Wie eine SA-Uniform«, sagte Walter, doch diesmal senkte er seine Stimme. Trotzdem schaute er sich um.
    Er drückte das Fenster im Abteil hinunter, atmete so tief ein wie ein Bergsteiger am Ziel, streckte sich und genoss die frische Luft. Sie belebte Haut, Kopf und Mannesmut. Walter war es, als würde er endlich in eine Welt eintauchen, die ihm wohl gesinnt war. War es noch die Welt von gestern oder schon das Paradies von morgen, von einem Gott geschaffen, der es nicht zuließ, dass ein Mensch dem anderen ein Leid antat? Die überraschende Erleichterung verjagte alle Wolken mit einem Trauerrand. Sie machte das Leben erst sanft und dann erträglich. Der Befreite labte sich an der Hoffnung. Sie präsentierte sich ihm, wie einst Noah auf seiner Arche, als Regenbogen, doch in dem Moment, da er nach der Taube mit der Frie-densbotschaft im Schnabel Ausschau hielt, bedrohte ein schriller Pfiff alles irdische Glück. Der Zug fuhr weiter. Walter entdeckte das Bahnhofsschild, doch es verschwand im Dämmergrau, ehe er es lesen konnte. Schon sah er die Funken fliegen, rotgold und strahlend und schön wie zu Hause die Sternschnuppen, die vom

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