Nur die Liebe bleibt
rübermachen. Sie wissen ja selbst, dass die keinen Rechtsanwalt brauchen. Aber denken Sie heute nicht an morgen. Das verdirbt einem Menschen nur den Appetit. Heute essen wir beide so viel, bis wir Bauchschmerzen haben. Wer Bauchschmerzen hat, vergisst jeden anderen Kummer. Hat mir meine Großmutter immer gesagt, wenn ich als Junge einen Leib wie eine Mastsau hatte, weil ich Wasser auf Kirschen getrunken hatte. Das mit dem Essen müssen Sie mal ausprobieren. Das funktioniert wirklich. Sie sehen ja, ich habe auch einen Korb mit. Grete hat Ihnen extra Krakauer mit Knoblauch vom Schlachter geholt. Wissen Sie noch? Sie haben die Krakauer immer so gern bei uns gegessen und wegen dem Knoblauch durften Sie nicht, wenn Sie noch aufs Gericht mussten.«
»Da sehen Sie mal, wozu die Nazis alles gut sind. Ich kann jetzt Krakauer mit Knoblauch essen, wann immer ich will, so viel ich will und wo ich will. Sogar in Afrika.«
»Meinen Sie, dort wird es Krakauer geben?«, fragte Gre-schek.
»Bestimmt nicht«, wusste Walter. »Ich wollte mir nur mal wieder selbst klarmachen, dass dem Leben solche aberwitzigen Scherze nie ausgehen.«
Heini Wolf hatte ihm geraten, in Dresden auszusteigen und dort den Italienzug zu nehmen, der um ein Uhr nachts an der deutschen Grenze sein würde. Die drei Stunden in Dresden sollte er zu einem verspäteten Mittagessen nutzen. »Fünf Minuten Laufzeit vom Bahnhof«, hatte Heini empfohlen. »Dort kann dein Magen so gut und so billig von unserem geliebten Vaterland Abschied nehmen wie sonst nirgends in der Stadt.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass mein Gemüt sich mit einer Henkersmahlzeit noch ein bisschen schwertun wird«, hatte Walter eingewandt, »ich hab mir sagen lassen, zu Henkersmahlzeiten braucht man eine gewisse Routine, ehe sie einem richtig gut schmecken.«
Seine Stimmung war von zwei Gläschen Schlehenschnaps ein wenig angeheitert, so ähnlich wie in seiner Studentenzeit, als er immer wieder vergebens probiert hatte, mit seinen trinkfesten Bundesbrüdern mitzuhalten. Wehmütig dachte er an sein drittes, in Heidelberg verbrachtes Semester. Er hatte es nie vergessen können und Jettel nie anhaltend verziehen, dass sie ihn mit ihrem Jammern und ihrer Eifersucht für das restliche Studium zurück nach Breslau gelockt hatte. Erst überfiel ihn die Melodie von »Gaudeamus igitur«, und dann ging ihm »Alt-Heidelberg, du feine« nicht aus dem Sinn. Obwohl der Zug durch den Winter fuhr und der Reisende in Richtung Afrika glaubte, er hätte alle Erinnerungen begraben, die einen Mann auf der Flucht schwächen könnten, wurde es Sommer und wundermild. Walter sah das Heidelberger Schloss, den Königsstuhl im Mondschein und das Karlstor, sah Brücken, Türme und Giebel. Am Neckar stand ein Gasthaus und am Fenster mit den schönen Butzenscheiben die Kellnerin Fanni. Sie schielte leicht, hatte kastanienbraune Zöpfe, so lang wie die von Rapunzel, und einen Hang zu Studenten, die mütterliche Instinkte in ihr wachriefen. Fast hätte Walter seine Jettel mit Rapunzel betrogen - es wäre dann das einzige Mal gewesen -, doch dank des badischen Weins, den er ja nicht gewöhnt war und den er, um zu sparen, ohne zu Abend zu essen, getrunken hatte, war die keimende Romanze schon mit dem Prolog beendet worden. Rapunzel war nicht nachtragend. Dem schüchternen Jüngling aus Breslau kredenzte sie zum Andenken die mit goldenen Weinranken verzierte Speisekarte ihres Arbeitgebers. Das Menü hatte Walter jahrelang aufgehoben. »Und nun«, sagte er, »fresse ich aus dem Papier und sauf aus der Flasche. Wie ein Sohrauer Stallknecht.«
»So etwas dürfen Sie nicht so ernst nehmen, Herr Doktor«, riet Greschek, »das macht nur krank im Kopp.« »Noch kränker kann mein Kopf nicht werden«, seufzte Walter.
Es erschien ihm als eine besonders hinterhältige Provokation des Schicksals, dass sein Appetit absolut nicht durch die Aufregung des Abschieds gelitten hatte. Er schalt sich einen herzlosen, verfressenen Egoisten, aber er konnte nicht umhin, jeden Bissen von Gretes selbst gebackenem Brot als ein Geschenk der Götter zu genießen. Jedenfalls so lange, bis er an seine Frau und sein Kind dachte und umgehend auch an die Geschichten, die sich die Menschen erzählten, während sie auf ihre Auswanderungspapiere warteten. Als der Zug in Görlitz einfuhr, hatte er dennoch zwei Krakauer und zwei Schmalzstullen gegessen und zusammen mit Greschek den größten Teil der Schnitten mit Inas Eierhäckerle. Greschek weigerte sich, an
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