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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Augusthimmel regneten. »Geh wieder ins Bett«, rief die Mutter, »du hast dir genug gewünscht. Morgen musst du früh raus.«
    Auf einem Gleis kurz hinter dem Bahnhof stand eine kleine Schiebelok. Walter nickte ihr zu. Ihm war eingefallen, dass Schiebeloks typisch für Liegnitz waren. Der Liegnitzer Bahnhof lag in einer Kurve, und die kleinen Loks, die dort an den Zugschluss gesetzt wurden, waren zum Wiederanfahren nötig. Es bekümmerte den kundigen Reisenden allerdings, dass er Liegnitz nicht bewusst wahrgenommen hatte. Den Göttern, die nun für ihn zuständig waren, hielt er vor, dass ein Emigrant kein Urlauber war. Für einen, der seine Heimat für immer verlassen musste, war es wichtig, an jeder einzelnen Station mit den Augen und mit dem Herzen Abschied zu nehmen. Solange der Zug noch in Schlesien war, erst recht.
    Kaum saß er wieder, wurde die Tür zum Abteil kräftig aufgestoßen. Die »Berliner Illustrirte« fiel raschelnd vom Tischchen am Fenster auf den Boden, Glasscheiben zitterten. Walter zuckte zusammen. Er hatte eine Dreiviertelstunde keinen Menschen gesehen und fünfundvierzig Minuten lang mehr Selbstgespräche geführt als je zuvor in seinem Leben. Auf eventuelle Mitreisende war er nicht mehr eingestellt - nur noch auf den Schaffner und die Fahrkartenkontrolle. Wie ein Überführter, der kurz davor ist, seine Schuld zuzugeben, starrte Walter seine Schuhe an. Seine Hände bebten, als er seine Aktentasche aufmachte. Ihn irritierte ein unverschlossenes weißes Couvert. Walter war ganz sicher, er hätte es noch nie gesehen. Heini Wolfs Schrift, die sich über die ganze Vorderseite des Briefumschlags zog, erkannte er ebenfalls nicht. Sein Herz begann zu rasen, er spürte einen Drang zum Niesen und versuchte, ihn zurückzuhalten. Die Nase juckte, die Augenlider flatterten. Immer tiefer verirrten sich die Gedanken in einem Labyrinth aus Furcht und Widerwillen.
    »Nein«, wehrte sich Walter.
    Erst als sich der Mann räusperte und dies ungewöhnlich laut, kam ihm die Erinnerung. Der fürsorgliche Heini hatte die Fahrkarte und eine Zollinhaltserklärung für die beiden großen Koffer in den Umschlag gesteckt. »Da siehst du eher wie ein ordentlicher deutscher Handelsreisender aus und nicht wie ein Nebbich, der darauf brennt, aus diesem Prachtland herauszukommen«, hatte Heini gesagt.
    Beklommen, weil er den Schaffner, der ja schließlich eine Amtsperson war, ungebührlich lange hatte warten lassen, schaute Walter nach oben. Statt der roten Kopfbedeckung dieser Amtsperson sah er eine dunkelgraue Schirmmütze. Ausgerechnet die kam dem ängstlichen Italienreisenden bekannt vor. Er nahm mit den Augen Maß, entdeckte in einem schweren grauen Mantel eine vierschrötige Gestalt, und wie einer, der sich seinen Schmerz nicht anmerken lassen will, biss er die Zähne aufeinander. Noch traute Walter der Wirklichkeit nicht, und doch gab es keinen Zweifel. Er kannte die Schultern, die Brust und den Bauch, die in dem Mantel steckten, so gut wie sich selbst.
    Noch wagte Walter keine Bewegung, keinen Atemzug, kein staunendes Wort. Schon gar nicht wagte er, den trommellauten Jubel aus sich herauszulassen. Die graue Mütze wurde abgesetzt. Auch die war Walter vertraut, so vertraut wie der eigene Hut, denn seit sechs Jahren, zu Hause und auf Reisen, bedeckte sie einen dicht gewachsenen Busch von sperrigem grauen Haar. Walter sprang auf. Die zwei Schritte in Richtung der Abteiltür, die ihn noch vom einzigen Freund trennten, der ihm in der Not geblieben war, machte er wie einer, den die Last des Lebens noch nicht einmal gestreift hat. So löste sich auf einen Schlag das Rätsel, das ihn schon als Kind beschäftigt hatte - wie es einem Menschen ergeht, dem im Schlaf Flügel gewachsen sind. Nur die Lippen waren noch gelähmt und die Zunge schwer. Stumm drückte er Josef Greschek aus Leobschütz an sich. Vom Mantel, der feucht war vom Liegnitzer Schnee und nun in der Wärme des Zugabteils wie ein Suppentopf auf dem Herd dampfte, erreichte ihn der Duft, der auf immer Heimat bedeuten würde.
    Beide atmeten im gleichen Takt, schnauften wie alte Männer, die erst sich und dann den Weg zum Ziel überschätzt haben. Sie keuchten, als hätten sie an einem Tag einen Baum gefällt, ein Feld gerodet und die Heuernte eingebracht. Wie Brüder, die ein Leben lang getrennt gewesen sind und die der Zufall wieder zusammengeführt hat, hielten sie einander fest. In einem Zeitraum, der noch keine zwei Herzschläge währte, durchlebten sie sechs

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