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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Jahre Verbundenheit, und die erschienen ihnen so lang wie sechzig. Als sie ausatmeten, hätten sie nicht zu sagen vermocht, ob sie Schulbuben waren, die das Leben vor sich hatten, oder Greise, die in die letzte Schlacht zogen. Der eine war dreiunddreißig und hatte die Figur eines Jünglings, Greschek war acht Jahre älter und sah aus, als wäre er nie jung gewesen. Das erlösende Wort fand keiner von beiden.
    Walter hatte nie gewagt, Emotionen zu zeigen. Er war im Weltkrieg aufgewachsen und sollte, wie jeder deutsche Junge, dessen Vater mit Stolz des Kaisers Rock trug, ein deutscher Patriot werden, der den Tod fürs Vaterland als Ehrenpflicht empfand. Der andere hielt Helden für Dummköpfe und weinte dem Kaiser in Doorn keine Träne nach. Ihm war der Wortschatz nicht gegeben, um das auszudrücken, was er fühlte. In nahezu jeder Situation hielt er es für aussagekräftig genug, wenn er den Kopf schüttelte und missbilligend mit der Zunge schnalzte.
    »Mensch, Greschek, dass ich das noch erlebe! Sie sind ja total verrückt. Oder ich. Wahrscheinlich sind wir’s beide. Wo kommen Sie bloß her? Hier auf dem Bahnhof habe ich keinen Menschen gesehen. Noch nicht einmal den verfluchten Hund, der die ganze Zeit gejault hat. Wahrscheinlich bin ich besoffen, obwohl ich keinen Tropfen getrunken habe! Oder schon nervenkrank. Wie weit können Sie denn mitfahren?«
    »Ich hab doch gesagt, dass ich komme, Herr Doktor. Seit wann glauben Sie einem ehrlichen Mann nicht?«
    »Seit wann sind Sie ein ehrlicher Mann?«
    In Liegnitz hatte Greschek zwei Stunden Aufenthalt gehabt. Wegen einer Gruppe von Pimpfen, die sich abwechselnd balgte, sich lautstark scheußliche Mutproben ausdachte und ebenso grässlich Mundharmonika spielte, war er nur zwanzig Minuten davon im Wartesaal gewesen. Die restliche Zeit hatte er auf einer Bank am Bahnsteig gesessen und sich Gedanken über die neuen Herrenmenschen gemacht, die die Welt verändern wollten und noch nicht einmal imstande waren, ihre Söhne so zu erziehen, dass sie ordentliche Leute nicht belästigten. Er war durchgefroren und steif. Ächzend setzte er sich auf den Platz neben Walter. Trotzdem bückte er sich schon nach einigen Sekunden, um die Zeitschrift aufzuheben, die einem Juden deutlich gemacht hatte, wohin er gehörte. Aus seiner Jackentasche holte er ein abgeschabtes ledernes Etui und nahm eine Zigarre heraus.
    Das silberne Taschenmesser, mit dem er die Spitze abschnitt, hatte ihm Walter zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Zwei Wochen vor dem Abschied von Leobschütz war das gewesen. In Grescheks winzigem Garten vor dem kleinen Haus blühten gerade die Rosen. Regina war mitgekommen, um zu gratulieren. Sie hatte weiße Kniestrümpfe mit Bommeln angehabt, und Grete hatte noch wochenlang von den Strümpfen geschwärmt. »So ein teures Geschenk«, hatte sie bedauert, »wird der Herr Doktor aber nicht mehr abessen können, bis er fort muss.«
    »Warte nur, bis alles vorbei ist«, hatte Greschek gesagt. »Das dicke Ende kommt immer schneller, als die hohen Herren erwarten. Das weiß ich noch vom Krieg. Von wegen tausend Jahre.«
    Als er den Henkelkorb mit der weißen Serviette und der Thermosflasche bemerkte, den Walter in einer Reflexbewegung wieder zwischen die Beine geklemmt hatte, nickte er. »Den hat Ihnen Frau Ina mitgegeben«, erkannte der Menschenkenner. »Sie ist eine gute Frau, Ihre Schwiegermutter. Aber die Guten sind immer auch die Dummen. Ich werde mich um sie kümmern müssen. Das habe ich mir schon vorgenommen, als ich das letzte Mal in Breslau zu Besuch war. Sie wird es nicht leicht haben mit dem Fräulein Käthe, wenn die Frau Doktor und das Kind weg sind. «
    »Greschek, Sie kennen doch meine Schwiegermutter kaum. Warum tun Sie das für uns?«
    »Weil ich’s so gelernt habe von meinem Vater. Der hat immer gesagt, es ist eine Sünde, auf Menschen loszugehen, die sich nicht wehren können. Dem Schuhmacher Smolinsky hat er drei Zähne ausgeschlagen. Der hat vor unserem Haus seinen Sohn mit einem Ochsenziemer verprügelt. Ich seh’ das Blut heute noch spritzen.«
    »Machen Sie das bloß nicht nach, mein Freund. Denken Sie immer dran, dass Sie keinen Anwalt mehr haben. Sie lassen sich sowieso ganz schön auf was ein. Und wer weiß, was noch kommt.«
    »Ich, Herr Doktor. Ich weiß genau, was noch kommt. Und Sie auch. Es kommen noch viel schlimmere Zeiten. Das ist nur der Anfang.«
    »Der Anfang von was?«
    »Das wissen Sie so gut wie ich. Sonst würden Sie nicht zu den Negern

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